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Nicht näher bezeichnete Essstörung –eine heterogene Diagnosekategorie
Sowohl die internationale Klassifikation psychischer Störungen (↑ ICD-10) der WHO (Dilling et al. 2000) als auch der aktuelle DSM-Diagnoseschlüssel (↑ DSM-IV-TR) der American Psychiatric Association (APA 2000; deutsche Übersetzung Sass et al. 2003) enthält die Kategorie „Nicht näher bezeichnete Essstörung (ESNNB)“. Diese Diagnosekategorie ist im Vergleich zu den anderen Essstörungskategorien sehr heterogen und wenig spezifiziert. Eine Ausnahme bildet die Binge Eating Disorder (siehe Kapitel 3), die dieser Diagnosekategorie zugeordnet ist, jedoch aufgrund der ausformulierten Forschungskriterien eine spezifische Untergruppe innerhalb der ESNNB darstellt. Die restlichen Störungen innerhalb der Kategorie ESNNB sind vorwiegend Variationen der Anorexia und Bulimia Nervosa, oder Störungen, die eine Mischung von Merkmalen aus den beiden genannten Essstörungen darstellen. Untersuchungen aus verschiedenen Ländern zeigen, dass die ESNNB gar die häufigste unter den Essstörungen ist.
Erscheinungsbild der ESNNB
Was ist charakteristisch für die ESNNB?
Die meisten Betroffenen mit einer ESNNB zeigen ↑ klinische Merkmale, die denen der Anorexia oder Bulimia Nervosa sehr ähnlich sind, sich von diesen aber in ihrer Intensität oder Kombination unterschieden. Und analog zur Anorexia und Bulimia Nervosa sind die meisten der Betroffenen junge Frauen (z. B. Crow et al. 2002).
Innerhalb der ESNNB lassen sich zwei Subgruppen unterscheiden: Die erste Untergruppe ist gekennzeichnet durch Merkmale der Anorexia oder Bulimia Nervosa, jedoch liegen die diagnostischen Merkmale unterhalb der Schwelle zur jeweiligen Diagnosekategorie. Beispielsweise ist die Häufigkeit der Essanfälle zu gering um die Kriterien einer Bulimia|71◄ ►72| Nervosa zu erfüllen, oder das Gewicht liegt geringfügig über dem Gewichtslimit, um den Kriterien einer Anorexia Nervosa zu entsprechen. Die zweite Untergruppe der ESNNB ist dagegen durch eine Kombination von Merkmalen der Anorexia Nervosa und Bulimia Nervosa gekennzeichnet und entspricht somit am ehesten einer Mischung aus den beiden „klassischen“ Essstörungen (Fairburn / Bohn 2005). Innerhalb der ESNNB wird noch eine dritte Gruppe unterschieden, jene der BED (zu deren aktuellen Klassifizierung siehe Kapitel 3).
Ähnlich den Betroffenen mit Anorexia Nervosa oder Bulimia Nervosa leiden jene mit einer ESNNB bereits mehrere Jahre unter ihrer Essstörung, bevor sie sich einer Behandlung unterziehen. Hinsichtlich der Merkmale der essstörungsspezifischen Psychopathologie (z. B. übermäßige Bewertung von Essen, Figur und Gewicht) unterscheiden sie sich nicht von den Betroffenen mit Anorexia bzw. Bulimia Nervosa. Auch sind psychosoziale Merkmale wie beispielsweise Alter, Geschlecht, Ethnizität vergleichbar mit denjenigen von Bulimia-Nervosa-Betroffenen. Das Gleiche gilt auch für komorbide psychische Störungen (Fairburn et al. 2007).

Kernaussage
Die Essstörungen, die innerhalb der Diagnosekategorie ESNNB liegen, scheinenklinisch nicht weniger schwerwiegend zu sein wie die Anorexia Nervosa oder die Bulimia Nervosa.

Epidemiologie und Komorbidität
Wie häufig tritt die ESNNB auf?
Bisherige Untersuchungen zur ↑ Prävalenz der ESNNB in ↑ klinischen Stichproben weisen auf eine durchschnittliche Prävalenzrate von 60 % hin. Die Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung ist bis dato noch unbekannt (Fairburn / Bohn 2005; Fairburn et al. 2007). Zur Prävalenz komorbider Störungen der ESNNB fehlen bislang kontrollierte Studien.

Kernaussage
Die ESNNB ist mit Abstand die häufigste Essstörungsdiagnose, die in ambulanten Behandlungssettings gestellt wird.
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Welchen Verlauf nimmt die ESNNB und wie spricht sie auf eine Behandlung an?
Im Unterschied zu den anderen Essstörungen gibt es zum unbehandelten Verlauf einer ESNNB nur sehr wenige Untersuchungen. Bisherige Studien zeigen, dass eine ESNNB die größte Fluktuation zwischen den verschiedenen Essstörungskategorien aufweist bzw. die am wenigsten stabile Diagnose ist. Die Wahrscheinlichkeit für eine Spontanremission ist eher gering (Fairburn / Bohn 2005). Zum Verlauf einer ESNNB infolge einer Behandlung gibt es bislang keine Hinweise (Ausnahme ist in diesem Zusammenhang die BED, die in Kapitel 3 beschrieben wird).
Klassifikation
Wie wird die ESNNB klassifiziert?
Die Diagnosekategorie ESNNB des ↑ DSM-IV-TR (APA 2000; deutsche Übersetzung Sass et al. 2003) entspricht einer spezifischen Kategorie innerhalb der Essstörungen, die als Residuum der anderen Essstörungen zu betrachten ist und stellt somit eine ↑ Residualkategorie dar. Die Kategorie der ESNNB dient der Einordnung von Essstörungen, die die Kriterien für eine spezifische Essstörung nicht erfüllen. Um eine ESNNB zu klassifizieren, müssen zwei Bedingungen erfüllte sein:
• Es muss eine Essstörung mit ↑ klinischer Relevanz bzw. klinischer Ausprägung vorhanden sein.
• Die Diagnosekriterien für eine Anorexia Nervosa oder eine Bulimia Nervosa dürfen nicht erfüllt sein.

Kernaussage
Die Diagnosestellung einer ESNNB entspricht somit einer Ausschlussdiagnose, da keine Positivkriterien erfüllt werden müssen.

Störungen, die als ESNNB klassifiziert werden, sind in der nachfolgenden Übersicht aufgeführt:
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Essstörung nicht näher bezeichnet (ESNNB) nach DSM-IV-TR
Beispiele für die Kategorie ESNNB:
 
1. Bei einer Frau sind sämtliche Kriterien einer Anorexia Nervosa erfüllt, außer dass die Frau regelmäßig Menstruationen hat.
 
2. Sämtliche Kriterien der Anorexia Nervosa sind erfüllt, nur liegt das Körpergewicht der Person trotz erheblichen Gewichtsverlustes noch im Normalbereich.
 
3. Sämtliche Kriterien der Bulimia Nervosa sind erfüllt, jedoch sind die Essanfälle und das unangemessene Kompensationsverhalten weniger als zweimal pro Woche für eine Dauer von weniger als drei Monaten.
 
4. Die regelmäßige Anwendung unangemessener, einer Gewichtszunahme gegensteuernder Maßnahmen durch eine normalgewichtige Person nach Verzehr kleiner Nahrungsmengen (z.B. selbstinduziertes Erbrechen nach dem Verzehr von zwei Keksen).
 
5. Wiederholtes Kauen und Ausspucken großer Nahrungsmengen, ohne sie herunterzuschlucken
 
6. „Binge Eating Störung“: Wiederholte Episoden von Essanfällen ohne die für die Bulimia Nervosa charakteristischen regelmäßigen, einer Gewichtszunahme gegensteuernden Maßnahmen.

Welche Schwierigkeiten wirft die Diagnosekategorie ESNNB auf?
Im Zusammenhang mit einer ESNNB gibt es zwei Auffälligkeiten:
• Die Essstörung mit der höchsten ↑ Prävalenz wird in einer sogenannten ↑ Residualkategorie beschrieben.
• Trotz der weiten Verbreitung der Störung gibt es bislang nur wenige Untersuchungen zu der ESNNB, insbesondere fehlen Behandlungsstudien.
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Zudem fehlen der Kategorie positive Diagnosekriterien im Sinne von Einschlusskriterien, da die ESNNB bislang allein aufgrund des Ausschlusses der anderen Essstörungen diagnostiziert wird. Die Hinzunahme von Einschlusskriterien würde die spezifischen Merkmale der Betroffenen besser beschreiben.
Fairburn und Bohn (2005) haben für den Umgang bzw. die Veränderung dieser Auffälligkeiten und Missstände hinsichtlich der ESNNB drei Vorschläge:
• Lockerung der Diagnosekriterien für die Anorexia Nervosa und Bulimia Nervosa; Folge davon wäre, dass sich ein Teil der ESNNB für eine der beiden anderen Essstörungen qualifizieren würde. Es bestehen bereits verschiedene Vorschläge für eine Veränderung der Diagnosekriterien von Anorexia und Bulimia Nervosa. Ob eine entsprechende Anpassung dieser Kriterien tatsächlich zu einer Abnahme der Prävalenz der ESNNB führt, wird kritisch diskutiert.
• neue Klassifizierung der ESNNB; dabei läge der Fokus vor allem auf dem gemischten Typus, d.h. jenen Essstörungen, die sowohl Merkmale der Anorexia als auch der Bulimia Nervosa beinhalten. Diese neue Klassifizierung würde eine neue Kategorie innerhalb der Essstörungen implizieren (nebst der BED)
• ein „transdiagnostisches Modell“, das nur noch eine Diagnosekategorie enthält, nämlich jene der Essstörung (Fairburn et al. 2003). Hauptargument für diesen Vorschlag ist, dass die bisher klassifizierbaren Kategorien von Essstörungen vielmehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede aufweisen. Unter einem transdiagnostischen Blickwinkel würde das Augenmerk auf die gemeinsamen Merkmale anstatt die Unterschiede der verschiedenen Störungen gerichtet (beispielsweise rigides Essverhalten, Essanfälle, unangemessenes Kompensationsverhalten, Überschätzung der Bedeutung von Figur und Gewicht). Diese transdiagnostische Sichtweise wird zudem unterstützt durch die Tatsache, dass zwischen den einzelnen Essstörungsbildern eine hohe Fluktuation besteht (Milos et al. 2005).
Behandlung
Wie bereits weiter oben erwähnt, gibt es bislang keine spezifischen kontrollierten Behandlungsuntersuchungen zu den ESNNB (eine Ausnahme bilden dabei die Studien zur Behandlung der BED, siehe Kapitel 3) – dies |75◄ ►76| obwohl diese Essstörung sowohl sehr häufig vorkommt als auch von ↑ klinisch relevanter Ausprägung ist. Basierend auf dem transdiagnostischen Modell der Essstörungen haben Fairburn et al. (2003) einen Behandlungsansatz entwickelt, der für den ganzen Essstörungsbereich als Behandlungsmethode anzuwenden ist und somit auch für die ESNNB.
Was beinhaltet der transdiagnostische Ansatz zur Behandlung von Essstörungen?
Für die Anwendung des von Fairburn et al. (2003) entwickelten Behandlungsansatzes spielt die spezifische Essstörungsdiagnose keine Rolle mehr, da die dahinter stehende Theorie davon ausgeht, dass alle Essstörungen gemeinsame aufrechterhaltende Faktoren haben. Der Behandlungsansatz basiert auf dem kognitiv-behavioralen Modell der Bulimia Nervosa (siehe den Abschnitt „Behandlung“ in Kapitel 2), ist jedoch ergänzt um vier zusätzliche spezifische aufrechterhaltende Mechanismen. Diese vier Mechanismen sind:
• stark ausgeprägter Perfektionismus
• Selbstwertproblematik (grundlegend und übergreifend tiefer Selbstwert)
• Schwierigkeiten / Defizit im Umgang mit intensiven Emotionen
• interpersonale Schwierigkeiten
Bei jenen Patienten, die unter deutlichem Untergewicht leiden, konzentriert sich die Behandlung zu Beginn auf die Gewichtszunahme, daran anschließend erfolgen die restlichen Bestandteile der Therapie. Die Behandlung ist in vier Stufen aufgebaut:
• Intensive Initialphase (zwei Sitzungen pro Woche) mit dem Fokus auf ↑ Psychoedukation und Erarbeitung eines individuellen Störungsmodells;
• Übersicht über den bisherigen Behandlungsverlauf sowie Identifikation von Hindernissen, die Veränderungen im Wege stehen; Erfassung der vier oben erwähnten spezifischen / zusätzlichen Mechanismen, die die Essstörung aufrechterhalten (transdiagnostisches Modell);
• Basierend auf dem individuellen Störungsmodell liegt der Fokus der längsten Behandlungsphase auf der Veränderung der Essstörungspsychopathologie (beispielsweise die übermäßige Bewertung von |76◄ ►77| Essen, Figur und Gewicht) sowie auf der Veränderung der zusätzlichen / spezifischen die Störung aufrechterhaltenden Faktoren.
• In der letzten Phase ist der Fokus auf die Aufrechterhaltung der etablierten Veränderungen gerichtet.
Im Zentrum des transdiagnostischen Ansatzes stehen die vier beschriebenen individuellen aufrechterhaltenden Mechanismen – diese werden mittels kognitiv-verhaltenstherapeutischer Interventionen (↑ Kognitive Verhaltenstherapie) analysiert und verändert.

Kernaussage
Momentan erfolgt die empirische Überprüfung des transdiagnostischen Behandlungsmodells, und erste kontrollierte Untersuchungen zeigen, dass der Behandlungsansatz zur Behandlung von Essstörungen wirksam ist (Wilson et al. 2007).

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