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Binge Eating Disorder –Kontrollverlust beim Essen
Die meisten Menschen essen ab und an zu viel, meist bei einem speziellen gesellschaftlichen Anlass wie beispielsweise einer Geburtstagsfeier oder Essenseinladung. Wenn man sich nur gelegentlich überisst, führt dies zu keiner längerfristigen Belastung und ist auch nicht mit negativen Gefühlen wie Schuld, Scham und Kontrollverlust assoziiert.
Es gibt jedoch Menschen, die wiederholt und regelmäßig große Mengen Nahrungsmittel zu sich nehmen und dabei die Kontrolle über Menge und Zusammensetzung der Nahrung verlieren. Dieses anfallsartige Essen verursacht bei den Betroffenen einen hohen Leidensdruck, ist oft verbunden mit starken Versagensgefühlen und stellt eine deutliche Beeinträchtigung des psychischen Wohlbefindens dar.
Erscheinungsbild der Binge Eating Disorder

Kernaussage
Das Kernmerkmal der Binge Eating Disorder (BED) sind regelmäßig auftretende Essanfälle, die subjektiv als unkontrollierbar erlebt werden. Während eines Essanfalls werden verschiedenste Nahrungsmittel in unterschiedlich großer Menge schnell und oft wahllos durcheinander gegessen. Dies so lange, bis ein unangenehmes Völlegefühl oder ein deutliches Unwohlsein eintritt.

Eine solche Essattacke findet typischerweise statt, wenn die Betroffenen alleine sind und meist sind Schuld- und Schamgefühle, sowie Ekel, Niedergeschlagenheit und Hilflosigkeit die Folge davon. Im Unterschied zur Bulimia Nervosa (siehe Kapitel 2) werden die Essanfälle bei der BED nicht regelmäßig durch unangemessene Gegenmaßnahmen kompensiert (z. B. selbstinduziertes Erbrechen, Fasten) d.h., unangepasstes Kompensationsverhalten zur Verhinderung einer Gewichtszunahme fehlt.
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Zwischen den einzelnen Essanfällen allerdings versuchen die Betroffenen oft, die Nahrungsaufnahme einzuschränken und somit ihr Essverhalten zu kontrollieren. So entsteht ein Wechsel zwischen einerseits sehr kontrolliertem und andererseits anfallsartigem, unkontrolliertem Essverhalten. Viele BED-Patienten weisen im Krankheitsverlauf eine Vielzahl von mehr oder weniger erfolgreichen Diäten auf. Wie bei der Bulimia Nervosa ist auch das Körperkonzept von BED-Betroffenen negativ gefärbt, jedoch weniger stark.
Was ist charakteristisch für die Essanfälle bei BED-Patienten?
Die Essanfälle haben oft eine stimmungs- und spannungsregulierende Funktion, da sie häufig durch interpersonelle Konflikte, Stimmungsschwankungen (z. B. negative Stimmung, intensive Freude) oder durch ein starkes Verlangen nach Nahrungsmitteln ausgelöst werden (Chua et al. 2004; Heatherton / Baumeister 1991; Tanofsky-Kraff et al. 2000). Ein BED-Essanfall kann sich auch über mehrere Stunden erstrecken (bei der Bulimia Nervosa sind die Essanfälle zeitlich stärker eingegrenzt). Interessanterweise scheint für die psychische Belastung durch den Essanfall weder die Dauer des Anfalls noch die verzehrte Kalorienmenge zentral zu sein. Vielmehr bestimmt das Gefühl des Kontrollverlusts maßgebend die Belastung bzw. das Ausmaß des Leidens.
 
Fallbeispiel: Typischer Essanfall eines BED-Betroffenen
„Ein für mich typischer Essanfall findet abends – kurz nach dem Nachhausekommen nach der Arbeit – statt. Tagsüber habe ich wenig Zeit etwas zu essen, da es in meinem Job oft hektisch zu und her geht. Konkret heißt das, dass ich mein „Mittagessen“ (meist ein Sandwich) häufig unterwegs, d.h. auf dem Weg von einem Termin zum nächsten, einnehme. Dass ich keine Zeit für ein „richtiges“ Mittagessen habe und auch sonst tagsüber nicht richtig zum Essen komme, macht mir nichts aus. Im Gegenteil, ich sollte ja auch Gewicht reduzieren und da wäre es sicher nicht von Vorteil, wenn ich öfters am Tag essen würde. Für meinen Feierabend nehme ich mir aber jeweils vor, etwas zu kochen und das anschließend in Ruhe zu essen und zu genießen. Nur komme ich dann jeweils abends nach einem anstrengenden Tag ziemlich angespannt und erschöpft nach Hause und empfinde Hunger und richtiges |53◄ ►54| Verlangen nach Essen. Kaum bin ich zu Hause, gehe ich in die Küche und schneide mir ein Stück Brot ab und esse dies mit einem Stück Käse während der Durchsicht der Post. Während des Essens erinnere ich mich kurz daran, dass ich für ein feines und gesundes Nachtessen eingekauft habe und mir das, sobald ich etwas ausgeruhter bin, kochen möchte. Soweit komme ich allerdings oft gar nicht, weil ich nun wiederholt Brot und Käse esse – so viel, bis von beidem nichts mehr übrig ist – im Kühlschrank nach Wurstwaren und Joghurts Ausschau halte und diese auch verzehre. Das übrige Paket Erdnüsse vom vergangenen Wochenende sowie Kekse esse ich zu guter Letzt auch noch auf. Ich habe keine Kontrolle mehr darüber, was und wie viel ich zu mir nehme, es fühlt sich an, als ob „es mit mir isst“.
Während eines solchen Essanfalls spüre ich, dass ich mich etwas von meinem anstrengenden Tag erhole und auch entspannter und ausgeglichener werde. Dieses eher positive Gefühl wird jedoch sehr bald, d.h. kurz nach Beendigung des Essanfalls, durch ein unangenehmes Völlegefühl sowie Schuld- und Schamgefühle abgelöst. Ich bin enttäuscht und deprimiert, dass ich einmal mehr meinen Vorsatz, etwas zum Abendessen zu kochen, nicht ausgeführt habe und stattdessen unkontrolliert und wahllos eine große Nahrungsmenge und hohe Kalorienzahl zu mir genommen habe. Ich zweifle stark daran, dass ich jemals mein Übergewicht und unkontrolliertes Essverhalten verändern kann und fühle mich damit sehr hilflos.“
Epidemiologie und Komorbidität
Wie häufig tritt die BED auf?
Hinsichtlich der BED lassen sich folgende epidemiologische (↑ Epidemiologie) Daten festhalten: Untersuchungen in der Allgemeinbevölkerung ergeben ↑ Prävalenzraten zwischen 0,7 % und 4,6 %. Die höchsten Prävalenzraten der BED sind in klinischen Stichproben zu finden (4 bis 15,2 %), bei Teilnehmern von Gewichtsreduktionsprogrammen sogar 29,7%.

Kernaussage
Für die Allgemeinbevölkerung kann die BED-Prävalenz aktuell vorsichtig auf mindestens 1% geschätzt werden (Hoek / van Hoeken 2003), wobei ersichtlich wird, dass die BED im Vergleich zur Anorexia|54◄ ►55| und Bulimia Nervosa häufiger auftritt. Ergänzend zu den Prävalenzstudien liegen bislang keine Untersuchungen zurInzidenz der BED vor.

Wer erkrankt an der BED?
Bis dato liegen hinsichtlich der demografischen Variablen vorwiegend Angaben zu Geschlecht und Ethnizität vor. Das Geschlechtsverhältnis ist bei der BED – im Gegensatz zur Anorexia und Bulimia Nervosa –beinahe ausgeglichen, d.h., in der Allgemeinbevölkerung sind Frauen und Männer gleich häufig betroffen. In ↑ klinischen Stichproben leiden etwas mehr Frauen als Männer an einer BED (Verhältnis Frauen: Männer 3:2). Es gibt keine Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der ↑ Phänomenologie der BED; Männer weisen hingegen eine höhere Komorbiditätsrate für psychische Störungen auf. Anders als Anorexia und Bulimia Nervosa tritt die BED in verschiedenen Ethnien auf (Hoek / van Hoeken 2003).
Wann tritt die BED erstmalig auf und welchen Verlauf nimmt sie?
Die BED manifestiert sich typischerweise erstmalig im frühen Erwachsenenalter (zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr) oder im Alter zwischen 45 und 54 Jahren. Die Befunde zum Spontanverlauf der BED sind aktuell noch kontrovers: Einerseits gibt es Hinweise für eine moderate ↑ Remission der BED-Symptomatik im natürlichen Verlauf (ohne Behandlung). Andere Befunde hingegen deuten auf ein Fortbestehen der BED-Symptomatik und psychosozialer Probleme auf moderatem Niveau hin – vergleichbar mit der Bulimia Nervosa (Grilo 2006). Allgemein scheint der Verlauf einer BED durch eine langjährige Erkrankungsdauer mit zeitweise symptomfreien Phasen und Phasen mit unterschiedlich stark ausgeprägten Symptomen charakterisiert zu sein.

Kernaussage
Die Ergebnisse der bisherigen epidemiologischen Untersuchungen haben eher vorläufigen Charakter, da die Forschungstradition hinsichtlich der BED im Vergleich zu den anderen Essstörungen noch relativ jung ist. Auch werden die bisherigen Resultate durch methodische |55◄ ►56| Faktoren limitiert, z. B. fehlen in den vorliegenden Studien eine einheitliche Definition und Erfassung der Kriterien der BED. Zusätzlich bergen Daten, die ausschließlich auf Selbstberichten und -einschätzungen der Betroffenen basieren, die Gefahr einer Häufigkeitsüberschätzung durch die Untersucher.

Welches sind die häufigsten komorbiden Störungen der BED?
Die ↑ Adipositas ist die häufigste komorbide Erkrankung (↑ Komorbidität) der BED, d.h. 30 bis 40% der BED-Patienten, die wegen ihrer Essstörung eine Behandlung aufsuchen, leiden gleichzeitig unter starkem Übergewicht (Spitzer et al. 1992). Das Übergewicht wird über den ↑ BMI klassifiziert.

Definition
Normalgewicht BMI 20–25; Übergewicht BMI 25–30; Adipositas Grad I BMI 30–35; Adipositas Grad II BMI 35–40; Adipositas Grad III BMI > 40 (Deutsche Adipositasgesellschaft (DAG), 1998; World Health Organisation (WHO), 2000).

Exkurs zur Adipositas: Ist Adipositas eine Essstörung?
Die Begriffe Übergewicht und Adipositas zielen primär nicht auf das Gewicht, sondern auf die Fettansammlung, die das erhöhte Körpergewicht bedingt. Der Adipositas liegen grundsätzlich keine psychopathologischen Faktoren zugrunde, die das Übergewicht verursachen – somit gilt Adipositas nicht als Essstörung und ist aus diesem Grund weder im ↑ DSM-IV-TR noch im ↑ ICD-10 als eigenständige Diagnose aufgeführt. Im DSM-IV-TR können psychische Faktoren, die für die Entstehung bzw. Aufrechterhaltung der Adipositas bedeutsam sind, entsprechend als „Vorhandensein psychischer Faktoren, die einen medizinischen Krankheitsfaktor beeinflussen“, klassifiziert werden. Wenn das Übergewicht als Ursache einer psychischen Störung anzusehen ist oder mit einer solchen in Zusammenhang steht, dann ist im ICD-10 die entsprechende psychische Störung zu benennen und zusätzlich das Übergewicht mit der entsprechenden ICD-10-Nummer zu kodieren.
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Literatur
Einen Überblick über Epidemiologie, Ätiologie und Behandlung der Adipositas findet sich beispielsweise in Hilbert / Rief (2006) oder Pudel (2003).
 
Die häufigsten psychischen komorbiden Störungen der BED sind auf der ↑ Achse I die Angst- und ↑ affektiven Störungen (Angststörungen: ↑ Punktprävalenz 10 %, ↑ Lebenszeitprävalenz 20 %; affektive Störungen: Punktprävalenz 20-30 %, Lebenszeitprävalenz 30-40 %) sowie Störungen der Substanzabhängigkeit (Punktprävalenz 10%, Lebenszeitprävalenz 15-20%) (z.B. Mussell et al. 1996). Ebenfalls gehäuft treten ↑ Achse-II-Störungen auf, dies betrifft vor allem Persönlichkeitsstörungen des selbstunsicheren Typs und des ↑ Borderline Typs (z. B. Marcus et al. 1996).

Kernaussage
Patienten mit einer BED erkranken deutlich häufiger an einer komorbiden psychischen Störung als Patienten mit reiner Adipositas. Die Komorbiditätsrate bei der Bulimia Nervosa liegt hingegen noch höher.

Klassifikation und Diagnostik
Wie wird die BED klassifiziert?
Erstmalig beschrieben wurde das Störungsbild der Binge Eating Disorder von Stunkard (1959), jedoch erst in den letzten zehn Jahren wurde die Störung vermehrt erforscht. Repräsentative multizentrische Untersuchungen mit großem Stichprobenumfang haben dazu geführt, dass 1994 das Konzept der BED in die Forschungskriterien des DSM-IV im Sinne einer ↑ Forschungsdiagnose aufgenommen wurde. Sowohl im DSM-IV-TR als auch im ICD-10 wird die BED unter „nicht näher bezeichnete Essstörung“ aufgeführt.
Die BED-Forschungsdiagnose verlangt regelmäßig wiederholt auftretende Essanfälle. In Abgrenzung zur Bulimia Nervosa dürfen für die Diagnose einer BED keine regelmäßig auftretenden kompensatorischen Gegenmaßnahmen (selbstinduziertes Erbrechen, Fasten, exzessive körperliche Aktivität, ↑ Laxantien- und/ oder ↑ Diuretikamissbrauch) gegeben sein. Die folgende Übersicht enthält die BED-Forschungskriterien nach ↑ DSM-IV-TR.
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Diagnosekriterien der BED nach DSM-IV-TR
A. Wiederholte Episoden von „Essanfällen“. Eine Episode von „Essanfällen“ ist durch die beiden folgenden Kriterien charakterisiert:
(1) Essen einer Nahrungsmenge in einem abgrenzbaren Zeitraum (z.B. in einem zweistündigen Zeitraum), die definitiv größer ist als die meisten Menschen in einem ähnlichen Zeitraum unter ähnlichen Umständen essen würden.
(2) Ein Gefühl des Kontrollverlusts über das Essen während der Episode (z. B. ein Gefühl, dass man mit dem Essen nicht aufhören kann bzw. nicht kontrollieren kann, was und wie viel man isst).
 
B. Die Episoden von „Essanfällen“ treten gemeinsam mit mindestens drei der folgenden Symptome auf:
(1) wesentlich schneller essen als normal
(2) essen bis zu einem unangenehmen Völlegefühl
(3) essen großer Nahrungsmengen, wenn man sich körperlich nicht hungrig fühlt
(4) alleine essen aus Verlegenheit über die Menge, die man isst
(5) Ekelgefühle gegenüber sich selbst, Deprimiertheit oder große Schuldgefühle nach dem übermäßigen Essen.
 
C. Es besteht deutliches Leiden wegen der „Essanfälle“.
 
D. Die „Essanfälle“ treten im Durchschnitt an mindestens zwei Tagen in der Woche für sechs Monate auf.
Beachte: Die Methode zur Bestimmung der Häufigkeit unterscheidet sich von der, die bei Bulimia Nervosa benutzt wird; die zukünftige Forschung sollte thematisieren, ob die zu bevorzugende Methode für die Festlegung einer Häufigkeitsgrenze das Zählen der Tage darstellt, an denen die „Essanfälle“ auftreten oder das Zählen der Anzahl der Episoden von „Essanfällen“.
 
E. Die „Essanfälle“ gehen nicht mit dem regelmäßigen Einsatz von unangemessenen kompensatorischen Verhaltensweisen einher (z. B. „Purging-Verhalten“, fasten oder exzessive körperliche Betätigung) und sie treten nicht ausschließlich im Verlauf einer Anorexia Nervosa oder Bulimia Nervosa auf.
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Kernaussage
Die im DSM-IV-TR aufgeführten Forschungskriterien zur BED haben vorläufigen Charakter, da die Gültigkeit der Diagnosekriterien (Konstruktvalidität) noch kritisch diskutiert wird. Dabei stehen vor allem dieValidität des Kriteriums „Nahrungsmenge, die während eines Essanfalls gegessenen wird“ sowie das Zeit- und Häufigkeitskriterium zur Debatte (Devlin et al. 2003).


Was unterscheidet die BED differentialdiagnostisch von der Bulimia Nervosa und Adipositas?
Im Vergleich zur Bulimia Nervosa erfolgt die Erstmanifestation der BED später. Hinsichtlich der Essstörungspsychopathologie weisen beide Störungsgruppen eine ähnliche Frequenz von Essanfällen auf, jedoch berichten BED-Betroffene mehr Genuss- und Entspannungsempfindungen während der Essanfälle als Bulimia-Nervosa-Patienten. Darüber hinaus scheinen bei der BED im Vergleich zur Bulimia Nervosa unterschiedliche Auslöser der Essanfälle beteiligt zu sein. Das Diätieren ist nur für eine Subgruppe der BED-Betroffenen als Auslöser für die Essstörung relevant, und die BED ist durch weniger ↑ restriktives Essen gekennzeichnet. Bei der BED werden anders als bei der Bulimia Nervosa nicht regelmäßig Gegenmaßnahmen (selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, übermäßige körperliche Aktivität, Fasten) ergriffen, und die Komorbiditätsraten sind niedriger als bei der Bulimia Nervosa.
Vergleicht man die BED mit der Adipositas, so ist die BED durch eine frühere Erstmanifestation des Übergewichts, einen höheren ↑ BMI sowie durch häufigere Gewichtsschwankungen charakterisiert. Hinsichtlich der Essstörungspsychopathologie weist die BED regelmäßige Essanfälle auf, das restriktive Essverhalten beginnt im Vergleich zur Adipositas früher, das Essverhalten ist allgemein chaotischer und noch stärker durch Unregelmäßigkeit gekennzeichnet, BED-Patienten führen sich insgesamt mehr Energie zu und haben ein negativeres Körperkonzept als rein adipöse Menschen. Die psychische Komorbiditätsrate ist bei BED-Betroffenen höher und die psychische Beeinträchtigung stärker ausgeprägt.

Kernaussage
Bisherige Untersuchungsergebnisse unterstreichen dieklinische Relevanz des Störungsbilds der BED, das sich deutlich von der Adipositas|59◄ ►60| abgrenzen lässt; die Abgrenzung zur Bulimia Nervosa, vor allem vom „Nicht-Purging“-Typ ist weniger evident und muss noch weiter überprüft werden. Die BED wird aktuell als eine eigenständige Störung eingeordnet und nicht als Epiphänomen bzw. Begleiterscheinung der Adipositas oder Bulimia Nervosa beurteilt.

Wie lässt sich eine BED diagnostizieren?
Die BED-Diagnose kann mittels strukturierter Interviews oder Selbstbeurteilungsfragebogen erhoben werden (im Folgenden werden nur Instrumente genannt, die in deutscher Sprache erhältlich sind). Nebst der Klassifikation der BED anhand der DSM-IV-TR-Forschungskriterien empfiehlt es sich einleitend ein strukturiertes diagnostisches Interview durchzuführen, beispielsweise das Diagnostische Interview für psychische Störungen (DIPS; Schneider / Margraf 2006) oder das Strukturierte Klinische Interview für DSM-IV (SKID- und II; Wittchen et al. 1997). Mit diesen diagnostischen Interviews lassen sich mögliche komorbide Störungen der BED erfassen. Für die genaue Erfassung der Essstörungspsychopathologie kann daran anschließend das Eating Disorder Examination (EDE; deutsche Version: Hilbert et al. 2004; englische Version: Fairburn / Cooper 1993) angewendet werden. Das EDE ist ebenfalls ein strukturiertes Interview, das auf der Basis der DSM-IV-Diagnosekriterien die spezielle Psychopathologie von Essstörungen sowie die Häufigkeit der wichtigsten Verhaltensaspekte im Zusammenhang mit Essanfällen erfasst. Der Eating Disorder Examination-Questionnaire (EDE-Q; deutsche Version: Hilbert et al. 2007; englische Version: Fairburn / Beglin 1994) dagegen ist ein Selbstbeurteilungsinstrument bzw. die Fragebogenversion des EDE und erfasst analog zu diesem die spezifischen Merkmale der Essstörungspsychopathologie. Zur Erfassung der nicht-essstörungsspezifischen Psychopathologie können je nach ↑ Komorbidität, auch bei anderen psychischen Störungen verwendete Instrumente eingesetzt werden, wie beispielsweise das Beck-Depressionsinventar (Hautzinger et al. 1995).
 
 
Literatur
Tuschen-Caffier, Pook, Hilbert (2005). Diagnostik von Essstörungen und Adipositas. Hogrefe, Göttingen
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Erklärungsansätze –Störungstheorien und Modelle
Wie entwickelt sich eine BED?
Aktuell wird davon ausgegangen, dass sich die BED basierend auf einem multifaktoriellen Störungsmodell entwickelt, d.h., es sind mehrere Faktoren, nämlich genetische, psychologische und soziale, an der Entstehung der BED beteiligt. Zum Teil werden diese Bedingungsfaktoren auch für die ↑ Ätiologie der Bulimia und Anorexia Nervosa diskutiert.
Die pathogenetische (krankheitsbedingte) Interaktion biologischer, psychologischer und sozialer Risikofaktoren für die Ätiologie der BED ist belegt, wobei aber das spezifische Zusammenwirken dieser Faktoren bislang noch weitgehend ungeklärt ist. Hingegen existieren nach heutigem Forschungsstand Befunde für die folgenden Faktoren:
Bei der Entwicklung einer BED interagieren zwei ätiologische Faktorengruppen: Einerseits sind allgemeineVulnerabilitätsfaktoren zur Entwicklung einer psychischen Störung (nicht spezifisch für die BED) (mit)verantwortlich. Dazu gehören beispielsweise das Vorkommen psychischer Erkrankungen in der Familie, belastende Lebensereignisse (z. B. Missbrauch). Andererseits sind Faktoren beteiligt, die zur Entwicklung von Übergewicht und Adipositas in der Kindheit beitragen. Dabei scheint das Zusammentreffen von kindlichem Übergewicht und familiären Hänseleien sowie abwertenden Bemerkungen über Figur, Gewicht, Aussehen und Essverhalten spezifisch für die Entstehung einer BED zu sein, denn hinsichtlich des Zusammentreffens dieser beiden Faktoren unterscheiden sich die BED-Patienten sowohl von normalgewichtigen als auch von adipösen Vergleichsgruppen (u.a. Fairburn et al. 1998; Jackson et al. 2000).
Bisherige Studien geben darüber hinaus Hinweise auf eine genetische Basis von Essanfällen, wobei die Ergebnisse für eine familiäre Aggregation (Anhäufung) der BED uneinheitlich sind (Fowler / Bulik 1997; Lee et al. 1999). Eine moderate ↑ Heritabilität für Essanfälle (49 %) sowie eine substantielle Erblichkeit für Adipositas (86 %) resultiert aus einer Zwillingsstudie von Bulik et al. (2003). Des Weiteren konnte bisher eine molekulargenetische Untersuchung zeigen, dass Mutationen im Melanocortin-4-Rezeptor-Gen Essanfälle bedingen können (Branson et al. 2003). Die aktuelle Forschungslage zur Heritabilität der BED ermöglicht also Annahmen, die jedoch unter vergleichbaren Bedingungen weiter überprüft werden müssen.
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Auch psychobiologische Faktoren, die einen Einfluss auf die Nahrungszufuhr haben, werden für die Entwicklung der BED in Erwägung gezogen. Dabei werden insbesondere der Neurotransmitter ↑ Serotonin, das Hormon Leptin sowie Neuropeptide (Verbindung von Aminosäuren), u.a. Ghrelin, Cholecystokinin, im Zusammenhang mit der Entstehung von Essstörungen diskutiert (z.B. Geliebter et al., 2004).
Studien, die auf einer ↑ retrospektiven Erfassung möglicher Risikofaktoren basieren, weisen auf folgende Vorläufer der Erstmanifestation von Essanfällen im Rahmen einer BED-Erkrankung hin: eine erhöhte kindliche Vulnerabilität (beispielsweise Schüchternheit, Verhaltensauffälligkeiten, affektive Störung), ein erhöhtes Risiko für physischen und sexuellen Missbrauch sowie Kritik hinsichtlich Figur und Gewicht. Letztgenannter Faktor ist der bisher einzige störungsspezifische für die Entwicklung einer BED (Fairburn et al. 1998; Jackson et al. 2000).
Weitere Hinweise zur Ätiologie der BED geben retrospektive Studien zum Störungsbeginn, wobei sich zwei verschiedene Subtypen unterscheiden lassen, der dietfirst bzw. bingefirst Subtyp: für diejenigen BED-Patienten, die vor der Entwicklung von Essanfällen Diätversuche durchgeführt haben (dietfirst Subtyp) wird das ↑ restriktive Essverhalten als ätiologischer Faktor diskutiert (u. a. Grilo / Masheb 2000). Im Gegensatz dazu existiert unter den BED-Betroffenen auch ein bingefirst Subtyp, d.h., vor den Essanfällen haben diese Patienten keine Diäten durchgeführt. Für diesen ätiologischen Subtyp wird angenommen, dass sich die essstörungsspezifische Psychopathologie eher im Zusammenhang mit psychischen Beeinträchtigungen entwickelt (Spurrell et al. 1997).

Kernaussage
Das für die Bulimia Nervosa gültige Modell, dass sich die Essstörungspsychopathologie vor dem Hintergrund restriktiven Essverhaltens etabliert, scheint zumindest für die eine Subgruppe der BED-Patienten nicht zuzutreffen, d.h., bei der BED kann spekuliert werden, dass es verschiedene ätiologische Wege zur Manifestation der Störung gibt.

Bisherige Ergebnisse aus ↑ prospektiven Risikostudien beziehen sich auf bulimische Merkmale und weisen auf eine besondere Gefährdung für die Entwicklung von Essanfällen bei gleichzeitigem Überbewerten der eigenen Figur, erhöhtem ↑ BMI und Diätieren hin. Ebenfalls prädiktiven Wert für kindliches Sich-Überessen haben elterliche Einflüsse wie beispielsweise restriktives Essverhalten der Mutter und elterliches |62◄ ►63| Übergewicht (Stice et al. 1999). Als unmittelbare Auslöser von Essanfällen werden interpersonelle Stressoren (z.B. Streit / Konflikte mit anderen, Zurückweisung), ↑ Konditionierung sowie ein spezifischer Ernährungsstil diskutiert.
• Speziell interpersonelle Stressoren und der damit assoziierte negative ↑ Affekt bedingen bei BED-Betroffenen erhöhtes Verlangen nach Essen und führen somit häufig zu Essanfällen – die Essanfälle bedingen eine Spannungsreduktion und somit eine kurzfristige Verbesserung des Affekts (z. B. Hagan et al. 2002).
• Des Weiteren können Essanfälle auch durch Konditionierungsmechanismen ausgelöst werden, d.h., spezifische Stimuli wie beispielsweise Geruch, Anblick und Geschmack von Nahrungsmitteln werden durch ↑ Konditionierung systematisch mit dem Erleben von Essanfällen assoziiert (Jansen, 1998).
• Zudem wird unkontrolliertes Essverhalten durch fettreiche und kohlenhydratarme Ernährung, die einen geringen Sättigungswert aufweist, begünstigt (z. B. Drewnowski et al. 1992).
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Abbildung 3: Integratives Erklärungsmodell der BED (aus: Munsch / Biedert, in Druck)
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Kernaussage
Die BED basiert auf einem komplexen Zusammenwirken verschiedener Ätiologiefaktoren, die sich aus biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren zusammensetzen und sowohl für die Entstehung als auch die Aufrechterhaltung der Essstörung verantwortlich sind (siehe Abbildung 3). Bisherige Untersuchungen zur Ätiologie wurden vor allem mit kaukasischen Frauen durchgeführt, sodass keine generalisierenden Annahmen für Männer bzw. für andere Ethnien möglich sind.

Behandlung
Kognitive Verhaltenstherapie und weitere psychologische Behandlungsansätze der BED – was ist wirksam?
Aufgrund der Gemeinsamkeiten zwischen der BED und der Bulimia Nervosa wurden effektive Behandlungsansätze der Bulimia Nervosa auf die BED angewandt und hinsichtlich ihrer Wirksamkeit überprüft. Insbesondere sind dies die ↑ Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) und die ↑ Interpersonale Therapie (IPT). Darüber hinaus kommt auch die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) bei der BED-Therapie zum Einsatz.
Der Schwerpunkt der KVT zur Behandlung der BED liegt auf der Reduktion der Intensität, Dauer und Häufigkeit der Essanfälle sowie auf der Veränderung dysfunktionaler ↑ Kognitionen hinsichtlich Essen, Gewicht und Figur. Zur Zielerreichung wird zum einen regelmäßiges Essen mit drei Haupt- und zwei bis drei Zwischenmahlzeiten pro Tag eingeführt. Zentrale KV-Techniken umfassen die Selbstbeobachtung, ↑ Stimulus- und Reaktionskontrolltechniken, Problemlösen, kognitive Umstrukturierung sowie Rückfallprophylaxe. Schließlich beinhaltet dieser Behandlungsansatz auch die ↑ Psychoedukation über Möglichkeiten zur Gewichtsreduktion. Der Aufbau bzw. die Steigerung der körperlichen Aktivität ist ein weiteres Behandlungsziel. Im Allgemeinen bewirkt die KVT bei ca. 50 % aller BED-Probanden, dass die Essanfälle verschwinden (Grilo 2006).
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Literatur
Detaillierte Angaben zur konkreten Durchführung der KVT bei BED sind bei Munsch (2003) zu finden.
 
Zwei Studien, in denen die KVT mit der IPT zur Behandlung der BED verglichen wurde, ergaben, dass sich die beiden untersuchten Behandlungsansätze hinsichtlich ihrer Effektivität nicht unterscheiden: Beide Behandlungsansätze resultierten nachweisbar auch zwölf Monate nach Beendigung der Therapie in einer signifikanten Reduktion der Essanfälle (79 % Remissionsrate bei KVT bzw. 73 % bei IPT) sowie in einer deutlichen Verbesserung der Essstörungspsychopathologie (beispielsweise gezügelter bzw. kalorienreduzierter Essstil, weniger Sorgen um Gewicht und Figur) und des psychologischen Befindens (Wilfley et al. 1993; Wilfley et al. 2002).
Die DBT nach Linehan (1996) ist empirisch überprüft die Therapie der Wahl bei ↑ Borderline-Persönlichkeitsstörungen und stellt eine Variante der KVT dar. Die DBT fokussiert primär auf die Regulation des ↑ Affekts. Bei der Behandlung der BED erwies sich diese Therapieform in ersten Untersuchungen ebenfalls als wirksam hinsichtlich der Reduktion der Essanfälle (Telch et al. 2001).
Jeder dieser Ansätze zur Behandlung der BED intendiert eine Reduktion der Essanfälle und eine Verbesserung der mit der Essstörung assoziierten Symptomatik (bei der IPT beispielsweise betrifft dies zwischenmenschliche Beziehungen, bei der DBT die Affektregulation) sowie eine Gewichtsreduktion. Da neben den Ähnlichkeiten hinsichtlich der Symptomatik zwischen BED und Bulimia Nervosa auch Unterschiede existieren, wird die psychotherapeutische Behandlung der BED auch an die spezifischen Aspekte dieser Essstörung angepasst. Aufgrund der hohen ↑ Komorbidität von Übergewicht und Adipositas bei BED-Betroffenen ist den bereits erwähnten Therapieansätzen jener der ↑ behavioralen Gewichtsreduktion beizufügen. Darüber hinaus wurden auch verschiedene pharmakologische Behandlungsansätze zur Reduktion der BED-Symptomatik überprüft (siehe unten).
Führen die psychologischen Behandlungsansätze auch zu einer Gewichtsreduktion?
Obwohl die Therapieergebnisse aus der KVT und IPT hinsichtlich der Essstörungspsychopathologie vielversprechend sind, konnte mit beiden |65◄ ►66| Ansätzen keine deutliche Gewichtsreduktion bei den Betroffenen erreicht werden. Hier ist jedoch anzufügen, dass jene BED-Patienten, die bei Abschluss der Therapie keine Essanfälle mehr hatten, auch signifikant mehr Gewicht reduzieren konnten als jene mit persistierenden Essanfällen. Dies lässt annehmen, dass die genannten BED-Behandlungsansätze einer weiteren bzw. neuerlichen Gewichtszunahme vorbeugen können.
Berücksichtigt man die hohe Komorbiditätsrate von Übergewicht und Adipositas bei BED-Patienten, so liegt eine Überprüfung von Gewichtsreduktionsprogrammen zur Behandlung der BED nahe. Direkte Vergleiche der KVT mit einem behavioralen Gewichtsreduktionsprogramm (BGR) weisen auf eine vergleichbare Wirksamkeit hinsichtlich der Reduktion der essstörungsspezifischen Psychopathologie (beispielsweise gezügelter bzw. kalorienreduzierter Essstil, weniger Sorgen um Gewicht und Figur) und der Gewichtsreduktion beider Behandlungsansätze hin, vor allem wenn der Beobachtungszeitraum über den Behandlungsabschluss hinaus geht (z. B. Munsch et al. 2007; Nauta et al. 2000).
 
 
Literatur
Eine systematische Übersicht über die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten der BED sowie deren Effektivitätsnachweis in ↑ randomisierten kontrollierten Studien findet sich in Brownley et al. (2007).
Lässt sich die BED auch pharmakologisch effektiv behandeln?
Bislang hat sich keine pharmakologische Behandlung der BED etabliert. Im Vergleich zur Bulimia Nervosa gibt es für die BED noch weniger kontrollierte Medikamentenstudien. In placebo-kontrollierten Untersuchungen wurden bisher drei verschiedene Substanzgruppen zur Behandlung der BED überprüft: Antidepressiva (u.a. Grilo et al. 2005a), zentral wirksame, d. h. auf das Zentrale Nervensystem wirkende Adipositasmedikamente (z.B. Appolinario et al., 2003) sowie Antiepileptika (McElroy et al. 2004), wobei die Antidepressiva bislang am häufigsten untersucht wurden.
Generell ist festzuhalten, dass die meisten pharmakologischen Untersuchungen zur BED einen kurzen Behandlungszeitraum (weniger als |66◄ ►67| zwölf Wochen) und keine ↑ Follow-up-Datenerhebungen umfassen. Der Erfassungsfokus liegt vorwiegend auf den Essanfällen und dem Körpergewicht, weniger auf der essstörungsspezifischen Psychopathologie. Innerhalb der pharmakologischen Untersuchungen zur Behandlung der BED beenden durchschnittlich 35 % (14% bis 54%) die Therapie vorzeitig.
Die bisherigen aus kontrollierten Studien stammenden Befunde fasst Grilo (2006) dahingehend zusammen, dass die Pharmakotherapie einer Placebobehandlung hinsichtlich der Reduktion der Essanfälle meist überlegen ist und auch eine höhere ↑ Remissionsrate aufweist (47 % versus 28 %), wobei der Unterschied zwar statistisch jedoch nicht ↑ klinisch signifikant ist. Die untersuchten Substanzklassen unterscheiden sich im Placebovergleich nicht wesentlich in ihrer Wirksamkeit. Der größte klinische Effekt zeigte sich in einer Studie mit dem Antikonvulsivum Topiramat (Topamax®), das allerdings verschiedene Nebenwirkungen aufweisen kann, was zu einem vorzeitigen Abbruch der Medikation bei 70 % der BED-Patienten führte. Bisher haben im Rahmen der pharmakologischen Behandlung der BED nur zwei Untersuchungen eine statistisch und auch klinisch relevante Gewichtsreduktion gezeigt. Zum einen betrifft dies die Adipositasmedikamente Sibutramin (Reductil®) und Orlistat (Xenical®) (Appolinario et al. 2003) zum anderen das bereits erwähnte Antiepileptikum Topiramat (Topamax®) (McElroy et al. 2003).
Bedingt die Kombination von KVT und Pharmakotherapie eine effektivere Behandlung der BED?
Bisher existiert eine placebo-kontrollierte und ↑ randomisierte Studie zur BED-Kombinationsbehandlung mittels KVT und dem Antidepressivum Fluoxetin (Fluctin®) (Grilo et al. 2005a). Das Ergebnis weist darauf hin, dass die KVT hinsichtlich der Reduktion der Essanfälle effektiver ist als die alleinige medikamentöse Behandlung und die Kombination der beiden Behandlungsansätze gegenüber der alleinigen KVT-Anwendung keine Überlegenheit zeigt. Eine weitere Kombinationsmöglichkeit, die bislang unter kontrollierten Bedingungen überprüft wurde, betrifft die Verbindung von KVT (in Form eines Selbsthilfeprogramms) mit dem gewichtsreduzierenden Medikament Orlistat (Xenical®) (Grilo et al. 2005b). Die Kombinationsbehandlung zeigt einen signifikanten Vorteil hinsichtlich der Gewichtsreduktion, was darauf hinweist, dass eine zusätzliche|67◄ ►68| medikamentöse Behandlung die Gewichtsreduktion bei BED-Patienten erleichtern kann.
Lässt sich die BED auch mittels Selbsthilfeansätzen erfolgreich behandeln?
Aus mehreren randomisierten kontrollierten Untersuchungen stammen Befunde, welche die Wirksamkeit von kognitiv-verhaltenstherapeutischen Selbsthilfeprogrammen (mit unterschiedlichen Intensitätsstufen von professioneller Begleitung) zur Behandlung der BED belegen. Mittels der Selbsthilfeansätze kann eine Reduktion der Anzahl der Tage mit Essanfällen, der Essanfälle insgesamt sowie der mit der BED assoziierten psychologischen Merkmale (störungsspezifische Psychopathologie wie beispielsweise Sorgen um Gewicht und Figur, Angst, die Kontrolle über das Essen zu verlieren) erzielt werden. Eine signifikante Gewichtsabnahme wird auch durch die Selbsthilfeprogramme nicht erreicht (Brownley et al. 2007).
Gibt es evidenzbasierte Richtlinien zur Behandlung der BED?
Basierend auf dem aktuellen Forschungsstand geben die ↑ NICE guidelines die KVT als Therapie der Wahl zur Behandlung der BED an, wobei kein signifikanter Gewichtsverlust mit dieser Behandlungsmethode zu erzielen ist. Es gibt auch Effektivitätshinweise hinsichtlich anderer psychotherapeutischer Therapieansätze sowie in Bezug auf Gewichtsreduktionsprogramme und pharmakologische Behandlungen, wobei es zu diesen Befunden aktuell noch wenig Belege gibt. Die geringe Gewichtsreduktion innerhalb der unterschiedlichen Behandlungsansätze bleibt eine große Herausforderung, wobei die Kombination von KVT mit einem gewichtsreduzierenden Medikament erste belegte positive Hinweise zeigt. Die nachfolgende Übersicht in Tabelle 3 fasst die wesentlichen Punkte der NICE guidelines zur Behandlung der BED zusammen.
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Tabelle 3: Behandlungsrichtlinien der BED in Anlehnung an die NICE guidelines
Psychologische Interventionen Evidenzkategorie
• möglicher erster Behandlungsschritt ist die Anwendung eines evidenzbasierten Selbsthilfeprogramms. Für einen Teil der Betroffenen kann dies ausreichend sein. B
• KVT – adaptiert für die Behandlung der BED – sollte BED-Patienten angeboten werden A
• Für jene Betroffene, die entweder nicht auf KVT angesprochen haben sollten andere psychologische Interventionen (Interpersonale Therapie – IPT oder Dialektisch-Behaviorale Therapie – DBT) in Betracht gezogen werden B
A
• Information der Betroffenen, dass alle psychologischen Behandlungsansätze einen begrenzten Einfluss auf das Körpergewicht haben C
• Eine Gewichtsreduktion sollte entweder während oder nachfolgend psychologischer Interventionen angestrebt werden
Pharmakologische Interventionen
• Alternativ oder zusätzlich zum ersten Behandlungsschritt der Anwendung eines evidenz-basierten Selbsthilfeprogramms besteht die Möglichkeit einer antidepressiven Medikation mittels SSRI’s B
B
• Information der Betroffenen, dass die Behandlung mit SSRI’s die Essanfälle reduzieren kann, die Langzeitwirksamkeit der Medikation jedoch noch unbekannt ist. Für eine begrenzte Subgruppe der Betroffenen kann die antidepressive medikamentöse Behandlung ausreichend sein.
Anmerkung:
Evidenzkategorie A: Evidenz beruht auf mind. einer randomisierten kontrollierten Untersuchung oder einer Metaanalyse über randomisierte Untersuchungen
Evidenzkategorie B: Evidenz beruht auf gut kontrollierten – jedoch nicht randomisierten – Untersuchungen
Evidenzkategorie C: Expertenmeinungen, Schlussfolgerungen, die nicht auf gut kontrollierten klinischen Studien beruhen.
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Internet
Differenzierte Empfehlungen sowie die vollständigen NICE guidelines zur Behandlung der BED sind unter http://www.nice.org.uk/ zu finden.

Kernaussage
Bislang gibt es praktisch keine ausreichend belegtenPrädiktoren, die den Behandlungsausgang der BED verlässlich vorhersagen. Einzig ein schnelles Ansprechen auf die Behandlung scheint prädiktiv für ein positives Behandlungsergebnis zu sein (Grilo et al. 2005a).

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