Sich zu Überessen ist für die meisten Menschen etwas Bekanntes und Harmloses – ein meist situationsbedingter Ausrutscher, den sie schnell wieder vergessen und dem sie keine weitere Bedeutung zuschreiben. Die meisten Menschen fühlen sich durch solch gelegentliches Überessen nicht beeinträchtigt oder belastet; sie führen auch keine gezielten Maßnahmen durch, um die kurzfristig erhöhte Energiezufuhr zu egalisieren bzw. zu kompensieren.
Für andere jedoch – und meist sind die Betroffenen junge Frauen –ist übermäßiges Essen eine regelmäßige Erfahrung, die mit einem Verlust der Selbstbeherrschung bzw. -kontrolle einhergeht. Anschließend versuchen die Betroffenen auf unangemessene Weise, die hohe Energiezufuhr zu neutralisieren, indem sie beispielsweise Erbrechen selbst herbeiführen. Essen, Figur und Gewicht bekommen eine enorme Wichtigkeit und werden zu einem großen persönlichen Problem, was zu einer deutlichen Beeinträchtigung des Wohlbefindens führt.
Erscheinungsbild der Bulimia Nervosa
Kernaussage
Das Kernmerkmal der Bulimia Nervosa sind regelmäßig auftretende Essanfälle mit Kontrollverlust, während derer die Betroffenen eine ausgesprochen große Menge an Nahrungsmitteln zu sich nehmen. Zentral ist dabei das Gefühl, mit dem Essen nicht mehr aufhören zu können, beinahe wie unter Zwang vorhandenes Essen zu sich nehmen zu müssen. Vor allem der Kontrollverlust unterscheidet die Essanfälle der Bulimia Nervosa von gelegentlichem Überessen.
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Im Unterschied zur Binge Eating Disorder (siehe Kapitel 3) ist die Bulimia Nervosa durch regelmäßig durchgeführte Gegenmaßnahmen gekennzeichnet: Um die bei einer Essattacke zugeführte Energiemenge zu kompensieren, wenden Menschen mit Bulimia Nervosa unangemessene Praktiken zur Gewichtskontrolle an. Dazu gehören selbst herbeigeführtes Erbrechen, Einnahme von ↑ Laxantien und/ oder ↑ Diuretika (sogenanntes „Purging“-Verhalten) sowie striktes Diäthalten, Fasten oder übermäßige körperliche Aktivität (sogenanntes „Nicht-Purging“-Verhalten).
Charakteristisch für die Bulimia Nervosa ist, dass die Betroffenen sich ausgeprägte Sorgen um Figur und Gewicht machen, deren Intensität über eine bloße Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen weit hinausgeht und letztendlich eine Belastung darstellt. Figur und Gewicht beeinflussen die Selbstbewertung der Betroffenen in enormem Ausmaß.
Typischerweise bleibt die Bulimia Nervosa über einen langen Zeitraum hinweg unbemerkt, da die Betroffenen – anders als bei der Anorexia Nervosa – meist normalgewichtig sind, ihnen von Außen nichts anzusehen ist und sie die Essanfälle aufgrund von Schuld- und Schamgefühlen meist verheimlichen.
Was ist charakteristisch für die Essanfälle bei Patienten mit Bulimia Nervosa?
Typisch für die Essanfälle der Bulimia Nervosa ist, dass die Patienten eine relativ große Menge an kalorienreichen Lebensmitteln essen. In der Regel verzehren sie während eines Essanfalls hochkalorische und leicht essbare Nahrungsmittel, auf die sie ansonsten versuchen zu verzichten oder die sie sich verbieten. Durchschnittlich werden pro Essanfall ca. 3000 bis 4000 kcal zugeführt, wobei hinsichtlich der Energiemenge individuell auch große Schwankungen zu verzeichnen sind (Guertin 1999). Typischerweise treten die Essanfälle in Zusammenhang mit strengen Diäten auf. Manche Betroffene versuchen, zwischen den Essanfällen möglichst nichts zu essen, die meisten ernähren sich nach einer relativ strikten, d.h. gewisse Nahrungsmittel verbietenden, Diät.
Die Häufigkeit der Essanfälle variiert individuell zwischen zweimal wöchentlich bis zu mehrmals pro Tag. Analog zu den Essanfällen bei der Binge Eating Disorder (BED), gehen auch die Essanfälle der Bulimia Nervosa oft mit negativen Stimmungen und Belastungen einher und |30◄ ►31|
haben eine stimmungs- und spannungsregulierende Funktion (z. B. Alpers /Tuschen-Caffier 2001). Im Gegensatz zur BED finden die Essanfälle der Bulimia Nervosa aber meist in einem umschriebenen kürzeren Zeitraum statt, d. h., ein Essanfall erstreckt sich nicht über mehrere Stunden, kann jedoch mehrmals pro Tag auftreten (siehe Kapitel 3).
Fallbeispiel: Typischer Essanfall mit nachfolgendem Kompensationsverhalten bei Bulimia Nervosa
„Um mein aktuelles Gewicht zu halten, versuche ich, mich einerseits möglichst gesund zu ernähren, d.h., ich vermeide hochkalorische bzw. fettreiche Nahrungsmittel und achte auch darauf, dass ich prinzipiell nicht zu viel esse. Dies gelingt mir tageweise auch immer wieder, jedoch treten seit ca. einem Jahr auch regelmäßig Essanfälle auf, die ich nicht mehr kontrollieren kann.
An einem typischen Arbeitstag esse ich kein Frühstück, im Verlauf des Morgens als Zwischenmahlzeit einen Apfel. Das Mittagessen nehme ich meist in der Kantine ein, wo ich einen kleinen Salat- oder Gemüseteller esse. Abends möchte ich eigentlich nur etwas Leichtes essen, beispielsweise einen Joghurt mit einem Stück Brot und einer Frucht. Dies gelingt mir jedoch oft nicht – anstatt dass ich nach der geplanten Mahlzeit aufhöre zu essen, kann ich nicht mehr stoppen und esse unkontrolliert weiter. Ich esse das restliche Brot mit Butter und Honig bestrichen auf und habe danach Lust auf Salziges und beginne Chips zu essen, schlussendlich so lange, bis die Tüte leer ist. Dann registriere ich plötzlich, dass ich ja bereits viel mehr gegessen habe, als ich mir vorgenommen habe. Typischerweise denke ich dann „jetzt habe ich schon wieder versagt! All meine bisherigen Bemühungen waren umsonst, jetzt kann ich auch grad weiter essen, da es eh keine Rolle mehr spielt!“ Und ich koche mir eine große Portion Spaghetti und mache diese mit viel Butter und Käse an und zum Abschluss kommt das Verlangen nach etwas Süßem, sodass ich auch noch eine Tafel Schokolade und einen großen Eisbecher weg putze.
Sobald ich mit dem Essen fertig bin, kommt die Angst, dick und unansehlich zu werden. Ich mache mir große Sorgen, dass ich die übermäßig zugeführte Energie nicht wieder loswerden kann und zwangsläufig an Gewicht zunehmen werde. Um Letzteres zu verhindern, erbreche ich die ganze Mahlzeit und fühle mich danach für einen kurzen Moment beruhigt und entspannt. Alsbald empfinde ich aber große Enttäuschung über mich selbst und schäme mich, dass ich einmal mehr die Kontrolle |31◄ ►32|
über das Essen verloren habe. Für die kommenden Tage nehme ich mir vor, wieder strikt nach meinem erlaubten Essplan zu essen, um mein Wunschgewicht auch halten zu können.“
Epidemiologie und Komorbidität
Wie häufig tritt die Bulimia Nervosa auf?
Hinsichtlich der Verbreitung dieser Essstörung in der Bevölkerung (↑ Epidemiologie) können folgende Aussagen gemacht werden: Die ↑ Prävalenzrate der Bulimia Nervosa bei jungen Frauen in der Allgemeinbevölkerung beträgt 1 bis 2 %. Die Gruppe mit dem höchsten Erkrankungsrisiko sind 20- bis 24-jährige Frauen. Weitaus häufiger als das Vollbild tritt die subklinisch (einzelne Symptome gestörten Essverhaltens sind vorhanden) ausgebildete Form der Bulimia Nervosa auf. Zur ↑ Inzidenzrate der Bulimia Nervosa liegen bislang nur wenige Untersuchungen vor, die zusammengefasst mindestens zwölf Neuerkrankungen pro Jahr bezogen auf 100 000 Einwohner angeben. In der Höchstrisikogruppe der 20- bis 24-jährigen beträgt die Inzidenz hingegen rund 82 Neuerkrankungen pro 100 000 Einwohner (Hoek/van Hoeken 2003; Hoek 2006). Für den Altersbereich über vierzig Jahre nimmt die Inzidenz markant ab. Die Angaben zur Anzahl der Neuerkrankungen gelten als minimale Schätzungen der wahren Inzidenzrate, da zum einen wenige Untersuchungen vorliegen und zum anderen die Bulimia Nervosa im Vergleich zur Anorexia Nervosa weniger offensichtlich erkenn- und wahrnehmbar ist.
Kernaussage
Die Bulimia Nervosa tritt somit etwas häufiger auf als die Anorexia Nervosa, jedoch weniger häufig als die BED (siehe Kapitel 1 und 3).
Wer erkrankt an der Bulimia Nervosa?
Die höchsten Inzidenzraten der Bulimia Nervosa treten bei jungen Frauen im Alter zwischen 20 und 24 Jahren auf, d. h., das Durchschnittsalter für die Erstmanifestation ist etwas höher als bei der Anorexia Nervosa. Probleme mit dem Essen treten jedoch meist bereits während der Pubertät auf, typisch sind strenge Diäten bereits im Jugendalter. Analog |32◄ ►33|
zur Anorexia Nervosa tritt die Bulimia Nervosa weitaus häufiger bei Frauen auf, doch auch Männer können unter dieser Essstörung leiden. Etwa 15 % der Betroffenen sind Männer bzw. die Inzidenz der männlichen Bulimia-Nervosa-Patienten beträgt ca. 0,8 pro 100 000 Einwohner pro Jahr. Entgegen früherer Angaben scheint sich die Bulimia Nervosa heute in verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen zu etablieren, wobei allgemein eine Zunahme der Essstörung in Kombination mit zunehmend ausgeprägtem westlichem Lebensstil zu vermerken ist (Hoek/ van Hoeken 2003).
Welchen Verlauf nimmt die Bulimia Nervosa und wie ist ihre Prognose?
Zum Krankheitsverlauf der Bulimia Nervosa liegen vorwiegend Ergebnisse vor, die sich auf behandelte Bulimia-Nervosa-Patienten beziehen.
Aus Untersuchungen über einen ↑ Follow-up-Beobachtungszeitraum von bis zu 11,5 Jahren lässt sich folgender Verlauf der Bulimia Nervosa festhalten (z.B. Herzog et al. 1999; Keel et al. 1999; Quadflieg / Fichter 2003):
• Bis zu 74% der Betroffenen remittieren (↑ Remission) vollständig bzw. erfüllen nicht mehr die Kriterien für eine Essstörung, dies auch rund sieben Jahre nach Behandlungsabschluss.
• Circa ein Drittel leidet auch rund zehn Jahre nach Beendigung der Therapie unter Ess- und Brechanfällen, was auf eine Störung mit tendenziell chronischem Verlauf hinweist.
• Die Sterberate betrifft 1 bis 3% (Todesursache infolge andauernder Mangelernährung oder Suizid).
• Infolge der Bulimia Nervosa entwickelt sich nur selten eine Anorexia Nervosa (hingegen entwickelt sich aus einer Anorexia Nervosa des öfteren eine Bulimia Nervosa).
Die Befunde zu den ↑ Prädiktoren des Verlaufs der Bulimia Nervosa sind widersprüchlich. Es existieren vereinzelte Hinweise auf den negativen Einfluss psychiatrischer Komorbidität, jedoch konnte die Mehrzahl der bisherigen Untersuchungen keine verlässlichen Prädiktoren finden (Grilo, 2006).
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Kernaussage
Insgesamt ist der langfristige Verlauf der Bulimia Nervosa günstiger als jener der Anorexia Nervosa. Nichtsdestotrotz ist die Sterblichkeitsrate der Bulimia Nervosa im Vergleich zur Normalbevölkerung deutlich erhöht.
Welches sind die häufigsten komorbiden Störungen der Bulimia Nervosa?
Komorbide psychische Störungen (↑ Komorbidität) treten bei der Bulimia Nervosa im Vergleich zur Normalbevölkerung gehäuft auf. Die häufigsten ↑ Achse-I und II-Störungen sind (Fichter/Quadflieg 2004):
• ↑ affektive Störungen (↑ Punktprävalenz 16,5 %, ↑ Lebenszeitprävalenz 69 %), wobei es sich vorwiegend um ↑ Major Depression und ↑ Dysthymie handelt
• Angststörungen (Punktprävalenz 22,2 %, Lebenszeitprävalenz 36,1 %
• Störungen im Zusammenhang mit Substanzkonsum, beispielsweise Alkohol und Medikamente (Punktprävalenz 14,6 %, Lebenszeitprävalenz 36,1 %)
• ↑ Borderline-Persönlichkeitsstörung 9,5 %
Die Angaben beziehen sich auf Betroffene, die aufgrund ihrer bestehenden Essstörung eine Behandlung aufsuchen. Inwiefern die Angaben zu komorbiden Störungen auch auf jene zutreffen, die zwar unter einer Bulimia Nervosa leiden, deretwegen jedoch keine Therapie durchführen, ist unklar.
Die häufigsten längerfristigen somatischen Folgeschäden der Bulimia Nervosa seien hier kurz aufgeführt: Wiederholtes Erbrechen kann längerfristig zu einem dauerhaften Abbau des Zahnschmelzes führen und oft sind die Zähne der Betroffenen durch Karies geschädigt. Das übermäßige Essen und Erbrechen kann eine erhebliche Vergrößerung der Ohrspeicheldrüsen bedingen. Diese Schwellung ist jedoch – nach erfolgreicher Normalisierung des Essverhaltens – reversibel. Das ↑ „Purging“-Verhalten, d.h. chronisches Erbrechen und/oder Missbrauch von ↑ Laxantien und ↑ Diuretika, bedingen einen Mangel an Flüssigkeit und lebensnotwendigen Salzen; die Störungen des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts können zu schweren medizinischen Problemen führen (z.B. Kaliummangel, Natriummangel). Zudem kann der chronische|34◄ ►35|
Laxantienmissbrauch zu einer Abhängigkeit von dieser Art der Darmanregung führen. Eher selten stellen Herzarrhythmien eine langfristige Folgeerkrankung der Bulimia Nervosa dar. Analog zur Anorexia Nervosa kommen auch bei der Bulimia Nervosa Menstruationsunregelmäßigkeiten und ↑ Amenorrhoe vor.
Kernaussage
Betroffene des „Purging“-Typus der Bulimia Nervosa leiden im Vergleich zum „Nicht-Purging“-Typus mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an ausgeprägten physiologischen Problemen (z.B. Störungen des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts).
Klassifikation und Diagnostik
Wie wird die Bulimia Nervosa klassifiziert?
Die Diagnosekriterien für die Bulimia Nervosa des ↑ DSM-IV-TR (APA 2000; deutsche Übersetzung Sass et al. 2003) sind weitgehend mit jenen des ↑ ICD-10 (Dilling et al. 2000) vergleichbar. Kernmerkmal der Bulimia Nervosa sind die regelmäßig wiederkehrenden Essanfälle sowie wiederholt praktizierte unangemessene Maßnahmen zur Verhinderung eines Gewichtsanstiegs. Das DSM-IV-TR betont im Vergleich zur ICD-10-Klassifikation verstärkt den Aspekt des Kontrollverlusts, gibt operationale Kriterien für einen Essanfall an und unterscheidet zwischen zwei möglichen Subtypen von Patienten mit Bulimia Nervosa („Purging“-Typus versus „Nicht-Purging“-Typus).
Da das DSM-IV-TR das in der Psychotherapieforschung und psychologischen Diagnostik am häufigsten verwendete Klassifikationssystem ist, werden hier die DSM-Diagnosekriterien der Bulimia Nervosa aufgeführt. Das ↑ DSM-IV-TR verweist bei jeder Diagnose darauf, wo die entsprechenden Kriterien im ICD-10 zu finden sind.
Diagnosekriterien der Bulimia Nervosa nach DSM-IV-TR (ICD-10: F50.2)
A. Wiederholte Episoden von Essattacken. Eine Essattacke ist gekennzeichnet durch beide der folgenden Merkmale:
(1) Verzehr einer Nahrungsmenge in einem bestimmten Zeitraum |35◄ ►36|
(z.B. innerhalb eines Zeitraums von 2 Stunden), wobei diese Nahrungsmenge erheblich größer ist, als die Menge, die die meisten Menschen in einem vergleichbaren Zeitraum und unter vergleichbaren Bedingungen essen würden.
(2) Das Gefühl, während der Episode die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren (z.B. das Gefühl, weder mit dem Essen aufhören zu können, noch Kontrolle über Art und Menge der Nahrung zu haben).
B. Wiederholte Anwendung von unangemessenen, einer Gewichtszunahme gegensteuernden Maßnahmen, wie z.B. selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Laxantien, Diuretika, Klistieren oder anderen Arzneimitteln, Fasten oder übermäßige körperliche Betätigung.
C. Die Essattacken und das unangemessene Kompensationsverhalten kommen drei Monate lang im Durchschnitt mindestens zweimal pro Woche vor.
D. Figur und Körpergewicht haben einen übermäßigen Einfluss auf die Selbstbewertung.
E. Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf von Episoden einer Anorexia Nervosa auf.
Bestimme den Typus:
„Purging“-Typus: Die Person induziert während der aktuellen Episode der Bulimia Nervosa regelmäßig Erbrechen oder missbraucht Laxantien, Diuretika oder Klistiere.
„Nicht-Purging“-Typus: Die Person hat während der aktuellen Episode der Bulimia Nervosa andere unangemessene, einer Gewichtszunahme gegensteuernde Maßnahmen gezeigt wie beispielsweise Fasten oder übermäßige körperliche Betätigung, hat aber nicht regelmäßig Erbrechen induziert oder Laxantien, Diuretika oder Klistiere missbraucht.
Es besteht eine Ähnlichkeit der Bulimia Nervosa des „Purging“-Typus mit der Anorexia Nervosa des „Binge-Eating/Purging“-Typus. Im Unterschied zu den untergewichtigen Patientinnen mit Anorexia Nervosa weisen jene mit Bulimia Nervosa jedoch ein Körpergewicht auf, das um |36◄ ►37|
oder über dem Minimum des medizinisch normalen Körpergewichts liegt.
Worauf ist bei der Bulimia Nervosa differentialdiagonstisch zu achten?
Nebst der differentialdiagnostischen Unterscheidung zur Anorexia Nervosa des „Binge-Eating/Purging“-Typus ist die Bulimia Nervosa auch gegenüber der Binge Eating Disorder (BED) abzugrenzen. Regelmäßig auftretende Essanfälle mit erlebtem Kontrollverlust sind auch ein Kriterium der BED, jedoch üben Betroffene mit einer BED keine regelmäßigen kompensatorischen Maßnahmen zur Verhinderung einer Gewichtszunahme aus. Bei der Differentialdiagnose der Bulimia Nervosa sollten darüber hinaus auch neurologische oder andere medizinische Krankheitsfaktoren in Betracht gezogen werden, die ebenfalls ein gestörtes Essverhalten verursachen können. Bei solchen durch somatische Krankheitsfaktoren bedingten Veränderungen im Essverhalten fehlen jedoch die für die Bulimia Nervosa charakteristischen psychologischen Merkmale, v. a. die übermäßige Besorgnis und Beschäftigung mit Figur und Körpergewicht. Auch im Rahmen einer ↑ Major Depression kann übermäßiges Essen auftreten, jedoch zeigen die Betroffenen im Vergleich zu Patienten mit einer Bulimia Nervosa keine unangemessenen kompensatorischen Gegenmaßnahmen und sorgen sich auch nicht übermäßig um Figur und Körpergewicht. Des Weiteren ist die Bulimia Nervosa auch von einer ↑ Borderline-Persönlichkeitsstörung differentialdiagnostisch abzugrenzen, da Essanfälle als ein Kriterium für impulsives Verhalten (↑ Impulsivität) auch in den Diagnosekriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung enthalten sind.
Kernaussage
Die spezifischen Merkmale der Bulimia Nervosa, nämlich die regelmäßig wiederkehrenden Essanfälle in Kombination mit unangemessenen Maßnahmen zur Verhinderung einer Gewichtszunahme sowie die übermäßige Besorgnis und Relevanz von Figur und Körpergewicht, erleichtern die Differentialdiagnose zu anderen Erkrankungen.
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Wie lässt sich eine Bulimia Nervosa diagnostizieren?
Die Diagnose der Bulimia Nervosa sowie spezifische Aspekte des gestörten Essverhaltens können weitgehend mittels derselben strukturierten Interviews und Selbstbeurteilungsfragebogen erhoben werden, die im Abschnitt „Klassifikation und Diagnostik“ in Kapitel 1 vorgestellt sind. Lediglich das Anorexia-Nervosa-Inventar zur Selbstbeurteilung (ANIS) ist für die Bulimia Nervosa nicht einsetzbar. Dafür steht hier noch der Dutch Eating Behavior Questionnaire (DEBQ; deutsche Version: Grunert 1989; Originalversion: Van Strien et al. 1986) zur Verfügung. Dieser Fragebogen stellt ein Standardverfahren auf dem Gebiet der Bulimia Nervosa dar und erfasst drei für das bulimische Essverhalten relevante Bereiche (extern bestimmtes Ernährungsverhalten, gefühlsinduziertes Ernährungsverhalten und ↑ restriktives Ernährungsverhalten). Es liegt auch eine Kinderversion des DEBQ vor (Franzen/ Florin 1997). Darüber hinaus wird der Fragebogen zum Figurbewusstsein (FFB; deutsche Version: Waadt et al. 1992; englische Version: Cooper et al. 1987) eingesetzt. Der FFB erfasst die Körperunzufriedenheit, was u.a. auch die belastende Beschäftigung mit Körpergewicht und Figur sowie die Befangenheit in der Öffentlichkeit aufgrund des eigenen Körpers beinhaltet.
Zur Erfassung der nicht-essstörungsspezifischen Psychopathologie können je nach Komorbidität, auch bei anderen psychischen Störungen verwendete Instrumente eingesetzt werden, wie beispielsweise das Beck-Depressionsinventar (Hautzinger et al. 1995). Empfehlungen zur Fragebogendiagnostik anderer psychischer Bereiche sind beispielsweise in Schneider und Margraf (2000) zu finden.
Literatur
Tuschen-Caffier, Pook, Hilbert (2005). Diagnostik von Essstörungen und Adipositas. Hogrefe, Göttingen
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Erklärungsansätze –Störungstheorien und Modelle
Wie entwickelt sich eine Bulimia Nervosa?
Die ↑ Ätiologie der Bulimia Nervosa ist multifaktoriell, d.h., es kommen in der Regel mehrere Faktoren zusammen, welche die Entwicklung der Essstörung bedingen. Dabei sind genetische, ↑ biobehaviorale, soziokulturelle, familiäre, individuelle bzw. Persönlichkeitsfaktoren sowie lebensgeschichtliche Faktoren zu berücksichtigen.
Genetische Faktoren
Familienuntersuchungen weisen darauf hin, dass Angehörige bulimischer (und anorektischer) Patienten häufiger an Essstörungen erkranken (Strober et al. 2000). Zwillingsuntersuchungen ergaben eine 54- bis 83-prozentige ↑ Heritabilität des bulimischen Syndroms. Diese Befunde legen nahe, dass eine genetische Prädisposition (Veranlagung) die Anfälligkeit für die Bulimia Nervosa erhöhen könnte, jedoch sind die aktuellen Befunde noch nicht ausreichend belegt; der Einfluss genetischer Faktoren auf die Entwicklung der Bulimia Nervosa kann also noch nicht abschließend eingeschätzt werden.
Aus molekulargenetischen Untersuchungen stammen Befunde, die auf eine erhöhte Anfälligkeit für die Erkrankung an einer Bulimia Nervosa hinweisen (u. a. Bulik et al. 2003).
Literatur
Eine aktuelle und detaillierte Übersicht zu biologischen und molekulargenetischen Faktoren bei der Entstehung von Essstörungen findet sich bei Mazzeo et al. (2006).
Biobehaviorale Faktoren
Restriktives Essverhalten erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Essanfälle auftreten: Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass die kognitive Kontrolle (↑ Kognition), welche beim restriktiven Essverhalten überwiegt, unter spezifischen Bedingungen (beispielsweise beim Anblick oder Geruch von Nahrungsmitteln, Stressbelastung, Verzehr sogenannter Vorab-Mahlzeiten) verloren geht und es zu einer Enthemmung des Essverhaltens|39◄ ►40|
kommt (u. a. Tuschen et al. 1993). Das bulimische Essverhalten, das durch Diäthalten einerseits sowie durch Essanfälle und Erbrechen andererseits gekennzeichnet ist, stört und dereguliert das komplexe System des Hunger-Sättigungsverhaltens, da keine regelmäßige Energiezufuhr stattfindet, und der Organismus gerät in den Zustand der Mangelernährung. Basierend auf diesem Zustand kann sich der Grundumsatz des Körpers verringern, und selbst nach einer Erhöhung der Kalorienzufuhr bleibt der reduzierte Grundumsatz für eine Weile weiterhin bestehen (der Grund- oder Ruheumsatz entspricht dem Energieverbrauch, den der Körper im Ruhezustand, beispielsweise beim Liegen, verbraucht). Dies bedeutet, dass bei normalisiertem Essverhalten das Körpergewicht kurzfristig erhöht werden kann, was für Betroffene mit Bulimia Nervosa eine Bedrohung darstellt. Somit stellt die physiologische Anpassung des Organismus an den Mangelernährungszustand einen von mehreren aufrechterhaltenden Faktoren für die Essstörung dar.
Des Weiteren existieren Hinweise dafür, dass der Aufbau von ↑ Serotonin bei bulimischen Patienten gestört ist (u.a. Weltzin et al. 1995): Durch das Vermeiden kohlenhydratreicher Nahrungsmittel wird der Spiegel der Aminosäure ↑ Tryptophan im Gehirn niedrig gehalten; diese ist jedoch für die Serotoninsynthese wesentlich.
Analog zur Binge Eating Disorder (Kapitel 3) können auch bei der Bulimia Nervosa die Essanfälle durch Konditionierungsmechanismen ausgelöst werden. Sowohl interne (z. B. niedergeschlagene Stimmung, Angst, Leistungsdruck) als auch externe (z. B. Geruch, Anblick von Nahrungsmitteln) Bedingungen können durch ↑ Konditionierung systematisch mit dem Erleben von Essanfällen assoziiert werden (Jansen 1998).
Soziokulturelle Faktoren
Die Bedeutung soziokultureller Einflüsse bei der Entstehung der Bulimia Nervosa sind durch epidemiologische Befunde belegt. Geschlecht, Kultur- und Schichtzugehörigkeit haben einen Einfluss auf die Entwicklung und den Verlauf der Bulimia Nervosa. Diäten – mit dem Ziel, dem Schönheitsideal zu entsprechen – spielen bereits im Kindes- und Jugendlichenalter eine Rolle: 15 bis 20 % der neunjährigen Mädchen in den USA und England haben bereits eine Diät durchgeführt (Schur et al. 2000). Der Befund lässt aufhorchen, wenn man bedenkt, dass Diätieren bzw. ↑ restriktives Essen einen der Auslösefaktoren einer Bulimia Nervosa darstellt und dass das anzustrebende Schönheitsideal für die |40◄ ►41|
meisten Frauen einem Gewicht entspricht, das unter ihrem biologisch vorgegebenen Körpergewicht liegt.
Familiäre Faktoren
In den 1970er Jahren wurden familiäre Faktoren, wie beispielsweise elterliches Kommunikations- und Interaktionsverhalten, als mögliche mitbedingende Faktoren für die Entwicklung einer Bulimia Nervosa diskutiert. Bei den bisher belegten auffälligen familiären Interaktions-und Kommunikationsmustern bleibt jedoch offen, ob diese bereits vor der Manifestation der Bulimia Nervosa vorhanden waren – und somit als mitverursachend anzusehen sind – oder eher eine Begleit- oder Folgeerscheinung der Störung darstellen und daher als unspezifische Faktoren einzuordnen sind. Es gibt keine Belege für eine „typische“ Essstörungsfamilie (Woodside et al. 1995).
Individuelle und Persönlichkeitsfaktoren
Perfektionismus und niedriges Selbstwertgefühl sind oft mit der Bulimia Nervosa assoziiert, wobei unklar ist, ob es sich dabei um eine Folge, einen aufrechterhaltenden oder mitauslösenden Faktor handelt. Beide Persönlichkeitsmerkmale sind als Risikofaktor belegt (Stice 2001). Des Weiteren gibt es Hinweise dafür, dass interpersonelle Schwierigkeiten für Betroffene mit Bulimia Nervosa eine starke Belastung bedeuten und übermäßiges Essen eine mögliche Bewältigungsform der negativen ↑ Affektivität darstellt. Die mangelnde Fähigkeit internale Reize (emotionale und körperliche) wahrzunehmen, d.h. eine schwach ausgeprägte Interozeptionsfähigkeit ist auch in Längsschnittuntersuchungen als ↑ Prädiktor für die Bulimia Nervosa belegt (Jacobi et al. 2004b).
Belastende Lebensereignisse
Sowohl belastende Lebensereignisse wie z. B. Verlust einer nahe stehenden Person, Scheidung der Eltern oder auch sexueller Missbrauch, treten gehäuft bei Betroffenen mit Bulimia Nervosa oder anderen Essstörungen auf. Beides scheinen jedoch unspezifische Risikofaktoren zu sein, da sie auch im Vorfeld von anderen psychischen Störungen vermehrt zu finden sind.
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Kernaussage
Die Bulimia Nervosa basiert auf einem multikausalen Bedingungsmodell. Bisher sind wenige – für die Bulimia Nervosa spezifische – Risikofaktoren belegt. Die meisten der beschriebenen Faktoren sind potenziell prädiktiv für die Erkrankung an einer Essstörung. In der Abbildung 2 sind die genannten Ätiologiefaktoren grafisch dargestellt. Kritisch anzumerken ist, dass die Befundlage nicht für alle der genannten Ätiologiefaktoren gleich gut ist; die Befunde stammen aus Quer- und Längsschnittuntersuchungen und die Daten sind teils ↑
retrospektiv, teils ↑
prospektiv erhoben.
Behandlung
Kognitive Verhaltenstherapie und weitere psychologische Behandlungsansätze der Bulimia Nervosa – was ist wirksam?
Im Unterschied zur Anorexia Nervosa liegen für die Bulimia Nervosa zahlreiche ↑ randomisierte kontrollierte Untersuchungen zur Wirksamkeit psychologischer und pharmakologischer Behandlungen vor. Die |42◄ ►43|
große Anzahl von Studien zeigt eindeutige Unterschiede hinsichtlich der Wirksamkeit verschiedener Behandlungsansätze, woraus klare Behandlungsrichtlinien resultieren. Unter den psychologischen Behandlungsansätzen stellt die ↑ Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) die am häufigsten und besten untersuchte Methode zur Therapie der Bulimia Nervosa dar. Auch die ↑ Interpersonale Therapie (IPT) ist in der Behandlung der Bulimia Nervosa als wirksam belegt. Zu anderen Therapieansätzen fehlen kontrollierte Untersuchungen, sodass hinsichtlich ihrer Wirksamkeit noch keine Aussage gemacht werden kann.
Das Gros der Untersuchungen basiert auf der ambulanten Behandlung der Betroffenen, was darauf hinweist, dass ein großer Teil der Betroffenen nicht stationär behandelt werden muss.
Die KVT integriert sowohl kognitive (↑ Kognition) als auch ↑ behaviorale Ansätze. Mittels systematischer Exploration und Verhaltensanalysen sollen dysfunktionale, d.h. unangemessene und störungsgenerierende Denkmuster, sowie nicht zielführendes Verhalten eruiert werden und in einem weiteren Schritt entsprechend hilfreichere und angemessener Einstellungen und Verhaltensweisen erarbeitet, eingeübt und etabliert werden. Der kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansatz zur Behandlung der Bulimia Nervosa basiert auf einem kognitiven Modell, dessen Mechanismen die Essstörung aufrechterhalten (Fairburn et al. 1993). Kernmerkmal des Modells ist eine übermäßige und belastende Beschäftigung mit Figur und Körpergewicht, was zu dysfunktionalem restriktivem Essverhalten und unangemessenen Versuchen der Gewichtsstabilisierung führt. Das restriktive Essen wiederum macht Essanfälle wahrscheinlich. Die KVT-Behandlung umfasst ca. 16–20 Sitzungen und findet im Einzelsetting statt (wobei auch eine Wirksamkeit im Gruppensetting belegt ist). Der Schwerpunkt der KVT zur Behandlung der Bulimia Nervosa liegt somit auf:
• Motivation zur Verhaltensänderung
• Normalisierung des Essverhaltens im Sinne eines Abbaus des restriktiven Essverhaltens und gleichzeitigen Aufbaus eines Essverhaltens, das durch regelmäßige Nahrungsaufnahme und Flexibilität hinsichtlich der Nahrungszusammensetzung gekennzeichnet ist
• Aufbau von Strategien für den Umgang mit Essanfällen und unangemessenem Kompensationsverhalten
• Abbau der übermäßigen Beschäftigung mit Figur und Körpergewicht
• Rückfallprophylaxe
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Im Allgemeinen bewirkt die KVT das Ende der Essanfälle und des Erbrechens bzw. Symptomfreiheit bei 30–50 % der Betroffenen. Die restlichen Betroffenen zeigen zu einem großen Teil eine Verbesserung der Symptomatik. Ebenfalls positiv verändert sich die allgemeine Psychopathologie, die spezifische Einstellung zu Figur und Gewicht sowie das Selbstvertrauen. Die positiven Effekte werden in verschiedenen Katamneseuntersuchungen (Nachbefragungen hinsichtlich der Ausprägung der Symptomatik) bis zu einem Zeitraum von sechs Jahren als stabil beschrieben (Wilson et al. 2007).
Die IPT wurde ursprünglich von Klerman et al. (1984) zur Behandlung der Depression entwickelt, und ihre Wirksamkeit ist für diesen Störungsbereich belegt. Zur Therapie der Bulimia Nervosa wurde der IPT-Behandlungsansatz entsprechend adaptiert. Er beinhaltet Techniken, die aus ↑ psychodynamisch orientierten Ansätzen abgeleitet wurden und fokussiert auf die meist beeinträchtigten sozialen Beziehungen der Betroffenen. Ziel ist es, aktuelle interpersonale Schwierigkeiten – die als aufrechterhaltende Faktoren der Essstörung gelten – zu identifizieren und zu verändern. Dies bedeutet, dass dieser Ansatz zur Behandlung der Bulimia Nervosa keine spezifischen Techniken zur Veränderung des Essverhaltens und der übermäßigen Beschäftigung mit Figur und Gewicht enthält.
Literatur
Eine detaillierte Beschreibung des konzeptuellen Modells der IPT zur Behandlung der Bulimia Nervosa ist bei Fairburn (1997) zu finden.
Bisherige Vergleiche von KVT und IPT hinsichtlich ihrer Wirksamkeit in der Behandlung der Bulimia Nervosa ergeben folgende Befunde: Bei Behandlungsende schnitt die IPT entweder annähernd gut oder signifikant schlechter als die KVT ab (sowohl hinsichtlich Abstinenz als auch Reduktion der Kernsymptomatik). Ein Jahr sowie sechs Jahre nach Therapieabschluss bestanden jedoch keine Unterschiede mehr bezüglich der Wirksamkeit der beiden Behandlungsansätze (Wilson et al. 2007).
Kernaussage
Die KVT scheint somit im Vergleich zur IPT zu einer rascheren Besserung der Symptomatik zu führen – was zur Folge hat, dass die KVT nach wie vor als Therapie der Wahl für die Behandlung der|44◄ ►45|
Bulimia Nervosa gilt. Jedoch bestehen langfristig betrachtet keine Unterschiede hinsichtlich der Wirksamkeit der beiden Behandlungsmethoden.
Lässt sich die Bulimia Nervosa auch pharmakologisch effektiv behandeln?
Als erstes wurden Antidepressiva zur Behandlung der Bulimia Nervosa überprüft, da häufig komorbid eine affektive Störung vorliegt und die Annahme besteht, dass eine Verbesserung der ↑ Affektivität eine verbesserte Kontrolle des Essverhaltens bedingen könnte. Verschiedene Gruppen von Antidepressiva wurden untersucht, ↑ trizyklische Antidepressiva, ↑ Monoaminooxidase-Hemmer (MAO-Hemmer) sowie ↑ Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Aufgrund des deutlich geringeren Nebenwirkungsprofils haben sich die SSRI als Antidepressiva der Wahl zur Behandlung der Bulimia Nervosa etabliert. Placebokontrollierte Studien belegen, dass die Gruppe der SSRI zwar wirksam ist hinsichtlich einer Reduktion der Kernsymptomatik sowie komorbider Störungen, jedoch erreichen die Betroffenen selten Symptomfreiheit und im Vergleich mit der KVT erzielen die Behandlungen mit Antidepressiva deutlich geringere Therapieeffekte.
Auch andere Medikamente oder Wirkstoffe, wie beispielsweise Opiatantagonisten (zur Behandlung der Heroin-Abhängigkeit), Lithium (zur Behandlung von depressiven und manisch-depressiven Störungen) und Antiepileptika wurden zur Behandlung der Bulimia Nervosa eingesetzt, haben sich jedoch im Vergleich zu den genannten Antidepressiva weniger bewährt (Mitchell et al. 2007).
Kernaussage
Unter Bezugnahme auf die Ergebnisse zu den SSRI kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die pharmakologische Therapie der Bulimia Nervosa zwar eine berechtigte Behandlungsmöglichkeit darstellt und in spezifischen Fällen indiziert ist, insgesamt betrachtet jedoch eine untergeordnete Rolle innerhalb der Behandlungsansätze der Bulimia Nervosa spielt.
Kritisch anzumerken ist, dass die meisten pharmakologischen Untersuchungen im Vergleich zu den psychotherapeutischen Studien einen deutlich kürzeren Zeitraum sowohl bezüglich der Behandlungsdauer |45◄ ►46|
als auch des ↑ Follow-ups umfassen. Es können also keine Aussagen über die Langzeitwirkung der pharmakologischen Behandlungsansätze gemacht werden. Obwohl die Anzahl der Essanfälle durch die pharmakologische Behandlung der Bulimia Nervosa teilweise reduziert wird, scheint das restriktive Essverhalten nicht grundlegend verändert zu werden. Das bedeutet, dass ein Kernverhaltensmerkmal der Essstörung bestehen bleibt und längerfristig möglicherweise zu einem Wiederanstieg Essanfällen führt.
Bedingt die Kombination von KVT und Pharmakotherapie eine effektivere Behandlung der Bulimia Nervosa?
Mehrere Untersuchungen haben die Wirksamkeit einer kombinierten Anwendung von KVT und Antidepressiva überprüft. Dabei hat sich gezeigt, dass die Kombination der beiden Behandlungsmethoden effektiver ist als die alleinige Anwendung von Antidepressiva, jedoch insgesamt nicht wirksamer als die alleinige Anwendung der KVT (Grilo 2006).
Kernaussage
Aktuell gibt es somit keine ausreichenden Hinweise für die Überlegenheit einer Kombinationsbehandlung der Bulimia Nervosa mittels KVT und antidepressiver Medikation.
Lässt sich die Bulimia Nervosa auch mittels Selbsthilfeansätzen erfolgreich behandeln?
Die Wirksamkeit von Selbsthilfeansätzen mit unterschiedlichen Intensitätsstufen der professionellen Begleitung wurde bislang in mehreren ↑ randomisierten kontrollierten Untersuchungen überprüft. Die Selbsthilfeprogramme sind zwar meist weniger effektiv als die KVT, nichtsdestotrotz scheinen sie sinnvoll zu sein, da ein Teil der Betroffenen stark von dem Selbsthilfeansatz profitiert und gar symptomfrei wird. Ob Selbsthilfe ohne therapeutische Begleitung oder mit teilweiser therapeutischer Begleitung den größeren Erfolg zeitigt, ist aktuell noch unklar (Mitchell et al. 2007).
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Tab. 2: Behandlungsrichtlinien der Bulimia Nervosa in Anlehnung an die NICE guidelines
Psychologische Interventionen |
Evidenzkategorie |
• möglicher erster Behandlungsschritt ist die Anwendung eines evidenzbasierten Selbsthilfeprogramms. Für einen Teil der Betroffenen kann dies ausreichend sein. |
B |
• KVT als Therapie der Wahl für Erwachsene |
A |
• Für jene Betroffene, die entweder nicht auf KVT angesprochen haben oder keine KVT durchführen möchten, sollten andere psychologische Interventionen in Betracht gezogen werden |
B |
B |
• IPT ist als Alternative zur KVT in Erwägung zu ziehen, jedoch mit dem Hinweis, dass positive Ergebnisse im Vergleich zur KVT später eintreten |
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Pharmakologische Interventionen |
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• Alternativ oder zusätzlich zum ersten Behandlungsschritt der Anwendung eines evidenz-basierten Selbsthilfeprogramms besteht die Möglichkeit einer antidepressiven Medikation |
B |
• Information der Betroffenen, dass die antidepressive Medikation die Frequenz der Essanfälle und des Erbrechens reduzieren kann, die Langzeitwirksamkeit der Medikation jedoch noch unbekannt ist. |
B |
• SSRI’* sind die Medikamente erster Wahl zur Behandlung der Bulimia Nervosa unter Berücksichtigung der Akzeptanz, Verträglichkeit und Symptomreduktion |
C |
• Nebst Antidepressiva werden keine anderen Medikamente zur Behandlung der Bulimia Nervosa empfohlen |
B |
Anmerkung:
Evidenzkategorie A: Evidenz beruht auf mind. einer randomisierten kontrollierten Untersuchung oder einer Metaanalyse über randomisierte Untersuchungen
Evidenzkategorie B: Evidenz beruht auf gut kontrollierten – jedoch nicht randomisierten – Untersuchungen
Evidenzkategorie C: Expertenmeinungen, Schlussfolgerungen, die nicht auf gut kontrollierten klinischen Studien beruhen.
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Gibt es evidenzbasierte Richtlinien zur Behandlung der Bulimia Nervosa?
Wie bereits erwähnt, basiert die Befundlage zur Behandlung der Bulimia Nervosa auf zahlreichen randomisierten kontrollierten Untersuchungen, sodass die ↑ NICE guidelines die KVT als Therapie der ersten Wahl angeben (basierend auf Befunden der Evidenzkategorie A). Zum ersten Mal wurde damit in den ↑ NICE guidelines ein psychologischer Behandlungsansatz als Methode erster Wahl zur Behandlung einer psychiatrischen Störung eingestuft. Die Übersicht (
Tab. 2) fasst die wesentlichen Punkte der NICE guidelines zur Behandlung der Bulimia Nervosa zusammen.
Internet
Differenzierte Empfehlungen sowie die vollständigen NICE guidelines zur Therapie der Bulimia Nervosa sind unter
http://www.nice.org.uk/ zu finden.
Welches sind die Inhalte der Kognitiven Verhaltenstherapie zur Behandlung der Bulimia Nervosa?
Die Empfehlung der KVT zur Behandlung der Bulimia Nervosa ist sehr gut ↑ evidenzbasiert, sodass im Folgenden eine kurze Beschreibung des theoretischen Hintergrunds sowie der spezifischen Inhalte dieser Therapiemethode folgt.
Das kognitive Modell zur Bulimia Nervosa betrachtet die übermäßige subjektive Bedeutung von Figur und Körpergewicht als Kernmerkmal der störungsspezifischen Psychopathologie. Diese Überbewertung und entsprechende dysfunktionale Annahmen (z.B. „ich bin nur erfolgreich, wenn ich schlank bin“, „ich bin für andere nur liebenswert, wenn ich schlank und rank bin“) führen zu rigidem Essverhalten bzw. Diätieren mit dem Ziel der Gewichtskontrolle. Restriktives Essverhalten (d.h. es darf nicht mehr von allem gegessen werden, bestimmte Nahrungsmittel werden wenn immer möglich vermieden) macht die Betroffenen anfällig für Essattacken, die wiederum körperliches Unwohlsein, emotionale Belastung und Angst vor einer Gewichtszunahme bedingen. Zusammen mit den übermäßigen Sorgen um Gewicht und Figur führt dies zu unangemessenen Maßnahmen der Gewichtsstabilisierung (z.B. selbst herbeigeführtes Erbrechen). Sind diese Kompensationsverhaltensweisen ausgeführt, |48◄ ►49|
verhalten sich die Betroffenen wieder gemäß ihren üblichen restriktiven Essregeln, womit der Teufelskreis von vorne beginnt. Während der KVT werden alle Bereiche des beschriebenen Teufelskreises bearbeitet.
Psychoedukation
In Anschluss an die Motivationsklärung (Abklärung der Motivationslage sowie gegebenenfalls Aufbau der Motivation bzw. Anwendung von Strategien zur Motivationssteigerung oder Motivierung) erfolgt die Vermittlung der oben beschriebenen kognitiven Theorie zur Bulimia
Nervosa. Die ↑ Psychoedukation zur Störung enthält Informationen zu den Bereichen:
• Zusammenhänge zwischen Diäthalten und Essstörungen
• Bedeutung eines bestimmten Körpergewichts (Set-point-Theorie, d.h. ein natürlichermaßen vom Körper vorgegebenes individuelles Gewicht, das nicht beliebig bzw. nicht auf der Basis von längerfristig gesunden Verhaltensweisen veränderbar ist)
• körperliche und psychische Folgeschäden der Bulimia Nervosa
• soziokulturelle Einflüsse auf die Entstehung der Bulimia Nervosa
Veränderung des Essverhaltens
Vor der eigentlichen Veränderung des Essverhaltens erfolgt die Problemanalyse, d.h. die Identifikation auslösender und aufrechterhaltender Bedingungen des gestörten Essverhaltens. Dazu wird das Essverhalten mittels Selbstbeobachtungsprotokollen festgehalten und analysiert (vorhergehende, begleitende und nachfolgende Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen); somit können die Auslösebedingungen der Essanfälle identifiziert werden. Dieser Prozess schafft u. a. auch ein Verständnis für die Funktionalität der Essstörung.
Das Ziel dieses Therapieabschnitts ist der Aufbau eines gesunden, normalen Essverhaltens (ausgewogene, regelmäßige Ernährung). Dies wird mittels folgenden Interventionen erarbeitet:
• Regelmäßiges Essen – d. h. Einnahme von drei Haupt- und zwei Zwischenmahlzeiten pro Tag, unabhängig von Essanfällen und Kompensationsverhalten – wird etabliert.
• Bisher gemiedene/verbotene Nahrungsmittel werden in den Speiseplan einbezogen.
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Umgang mit und Reduktion von Essanfällen und nachfolgendem Erbrechen
Das Etablieren von Regelmäßigkeit und Ausgewogenheit beim Essen ist bereits an sich eine Strategie zur Reduktion der Essanfälle und der unangemessenen Gegenmaßnahmen. Weitere Interventionen zur Verringerung der Essanfälle sind:
• ↑ Stimuluskontrolltechniken zur Beseitigung oder Reduktion der auslösenden Reizbedingungen bzw. der Auslöser von Essanfällen (z. B. Verzicht auf Vorratshaltung, einkaufen nur anhand einer Liste, Aktivitätenplanung für das Wochenende)
• Reaktionskontrolltechniken zur kurzfristigen Selbststeuerung des eigenen Verhaltens wie z. B. Zeitaufschub oder Ablenkung
Veränderung zugrunde liegender / aufrechterhaltender Schwierigkeiten
Nebst der direkten Veränderung des Essverhaltens werden die Schwierigkeiten, die mit der Bulimia Nervosa in Zusammenhang stehen oder der Essstörung zugrunde liegen, analysiert und verändert. Diese Schwierigkeiten können individuell verschieden sein, betroffene Bereiche sind beispielsweise Angst im Umgang mit anderen Menschen, geringes Selbstbewusstsein, hohe Ansprüche an die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten oder Mangel an spezifischen Kompetenzen. Zur Bearbeitung dieser Probleme dienen zum einen Teil kognitive Techniken, zum anderen können auch spezifische Interventionen eingesetzt werden, beispielsweise: Problemlösetraining, soziales Kompetenztraining, Einbezug von Familie / Partner.
Veränderung dysfunktionaler Gedanken
Das Ziel der Korrektur dysfunktionaler ↑ Kognitionen ist es, verzerrte, nicht hilfreiche Gedanken rund um das Thema Gewicht und Figur zu identifizieren, zu überprüfen und durch funktionalere, d.h. nicht verzerrte und der Realität angepasstere Einstellungen zu ersetzen (kognitive Umstrukturierung).
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Bearbeitung des Körperbildes
Je nach Ausprägungsgrad der Störung des Körperbildes kann mittels konfrontativer Körperübungen (vgl. Kapitel 1) und kognitiver Techniken die verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers sowie die ausgeprägte Unzufriedenheit mit diesem verändert werden.
Literatur
Für das therapeutische Vorgehen bei der Bearbeitung der Körperbildstörung finden sich bei Vocks und Legenbauer (2005) detaillierte Angaben.
Rückfallprophylaxe
Zum Abschluss der Behandlung liegt der Fokus auf der Stabilisierung der bisher etablierten Veränderungen sowie auf der ↑ prospektiven Analyse schwieriger Situationen, in denen ein Wiederaufleben des problematischen Verhaltens möglich sein könnte. Für diese „Risikosituationen“ werden bereits im Voraus potenzielle Strategien und Reaktionsweisen besprochen, die dann angewendet oder ausgeführt werden können, sobald die betreffende Situation tatsächlich eintritt.
Literatur
Eine ausführliche Beschreibung der Therapieinhalte sowie konkrete Hilfen zur Durchführung der Behandlung findet sich für den deutschsprachigen Raum bei Tuschen-Caffier und Florin (2002) und Jacobi et al. (2000).
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