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Ausblick
Das abschließende Buchkapitel soll aufzeigen, in welchen Bereichen noch Forschungsbedarf besteht. Weitere Untersuchungen sind z. B. notwendig, damit das Verständnis über die Entstehung der Anorexia Nervosa, der Bulimia Nervosa und der Binge Eating Disorder erweitert sowie die Behandlung noch verbessert und für möglichst viele Betroffene zugänglich gemacht werden kann.
Welche sind die nächsten Forschungsschritte im Bereich der Essstörungen?
Die ↑ evidenzbasierten Hinweise zur Behandlung der Anorexia Nervosa umfassen eine eher geringe Anzahl. Die bisherigen Behandlungsmethoden sind am wirksamsten für Betroffene im Jugendalter, die noch nicht über einen langen Zeitraum hinweg unter der Anorexia Nervosa leiden – für ältere, bereits chronifiziertere Betroffene sind die Therapieergebnisse weniger positiv. Für diese Gruppe der Betroffenen gilt es, effektivere Behandlungsansätze zu entwickeln und diese zu überprüfen. Dabei muss verstärkt der Fokus auf die spezifische und einzigartige Kernpsychopathologie der Anorexia Nervosa gerichtet werden, und noch wirksamere und für die Betroffenen annehmbare Interventionen sind zu entwickeln. Insbesondere die Bereiche Motivationsförderung und Aufrechterhaltung der Behandlung sind noch auszubauen.
Obwohl die Wirksamkeit der ↑ Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) zur Behandlung der Bulimia Nervosa sehr gut belegt ist, wird ein nicht zu vernachlässigender Teil der Betroffenen nicht symptomfrei. Daher ist es wichtig, zukünftig noch genauere Aussagen darüber treffen zu können, wer von der Behandlung profitieren wird, und Möglichkeiten für eine noch effektivere Therapie zu finden. Hinsichtlich der Erfolgsprädiktoren gibt es Hinweise, dass das rasche Ansprechen auf die Behandlung einen wesentlichen ↑ Prädiktor darstellt. Hier stellt sich die Frage, ob jene Patienten, die nicht rasch auf die Behandlung ansprechen, anderen|78◄ ►79| oder zusätzlichen Behandlungsmethoden zugeführt werden sollten, wenn ja welchen und mit welchem Ergebnis.
Einer der Bereiche in der Behandlung der BED, der verbessert und somit auch weiter erforscht werden sollte, ist die Gewichtsreduktion. Erste Untersuchungen zur Kombination von KVT mit einem gewichtsreduzierenden Medikament scheinen eine Möglichkeit zur effektiveren Gewichtsabnahme aufzuzeigen. Das positive Ansprechen der BED-Symptomatik auf verschiedene – inhaltlich sehr unterschiedliche – Behandlungsansätze wirft die Frage nach differentiellen Behandlungsprädiktoren, spezifischen Wirkvariablen und ätiologisch zugrunde liegenden Mechanismen auf.
Allgemein kann festgehalten werden, dass sich die vorliegenden Befunde zu den drei verschiedenen beschriebenen Essstörungen nicht einfach generalisieren lassen: Geschlecht, Ethnizität, kultureller Hintergrund und auch Alter sind oft selektiv (beispielsweise beruhen viele Studien auf weiblichen Stichproben), sodass man die Befunde jeweils nicht auf andere Stichproben übertragen kann.
Jene Essstörungen, die in der diagnostischen ↑ Residualkategorie ESNNB beschrieben werden, sind zwar die häufigsten, aber am wenigsten untersuchten Essstörungen – eine Ausnahme stellt die BED dar (siehe dazu auch Kapitel 3 und 4). Dies bedeutet, dass für die häufigsten Essstörungen am wenigsten Wissen hinsichtlich ihrer ↑ Ätiologie und wirksamen Behandlung vorhanden ist. Fairburn und Bohn (2005) schlagen zur Veränderung dieses Missstandes zum einen eine Reklassifizierung der ESNNB und/oder ein transdiagnostisches Modell zur Klassifizierung und Behandlung der Essstörungen vor, das von den Gemeinsamkeiten aller Essstörungen ausgeht. Letzteres wird in laufenden Untersuchungen überprüft, und beide Ansätze könnten dazu führen, dass dieser Bereich stärker erforscht wird, was den Betroffenen und deren Behandlung zu gute kommt.
Die kontrollierte Überprüfung möglicher Behandlungsansätze durch Experten der jeweiligen Therapierichtung ist ein erster Schritt in der Evaluation (Überprüfung) von effektiven Behandlungsmethoden. Des Weiteren steht die Überprüfung der Therapieansätze unter weniger kontrollierten Bedingungen (d.h. unter realen Praxisbedingungen), wie beispielsweise unterschiedlichen ↑ klinischen Settings oder verschiedenen Erfahrungsstufen der Therapeuten an. Das Vorhandensein wirksamer Behandlungsansätze allein bedingt jedoch noch nicht, dass diese auch im klinisch-praktischen Alltag angewendet werden und somit den Betroffenen zugänglich sind. Der Transfer ↑ evidenzbasierter Behandlungen|79◄ ►80| in den klinischen Alltag praktizierender Psychotherapeuten stellt eine Herausforderung dar, die es nicht nur für den Bereich der Essstörungen anzunehmen gilt und der beispielsweise durch ein größeres Angebot von störungsspezifischen Trainingsprogrammen begegnet werden könnte. Betrachtet man den Befund von Ranson und Robinson (2006), dass sich Psychotherapeuten bei der Wahl des jeweiligen Behandlungsansatzes typischerweise auf ihre eigene klinische Erfahrung – und nicht auf evidenzbasierte Befunde stützen, so wird die Notwendigkeit einer Zusammenführung dieser Befunde mit denjenigen der eigenen Erfahrung sehr deutlich.
Die Anwendung von Therapieleitlinien stellt eine weitere Möglichkeit dar, die jeweilige Therapie auf aktuellen evidenzbasierten Befunden aufzubauen. Die in den vorhergehenden Kapiteln aufgeführten Therapieleitlinien des National Institute for Health and Clinical Excellence (↑ NICE) stellen eine mögliche Orientierung für Praktiker dar, es existieren aber auch noch weitere evidenzbasierte Therapierichtlinien (z. B. Cochrane reviews). Die Empfehlungen des NICE sind wissenschaftlich sehr gut belegt, und somit eine Richtschnur zur Entscheidung hinsichtlich der besten Behandlungsmöglichkeiten. Ziel entsprechender Leitlinien ist die Verbesserung wirksamer Therapieangebote. Die Anwendung dieser Leitlinien schließt die klinische Erfahrung nicht aus bzw. vermag diese nicht zu ersetzen. Um klinische Entscheidungen zu treffen, sind nebst den Befunden der empirischen Evidenz beispielsweise auch allfällige Risiken, Nutzen, Werte und Präferenzen der Betroffenen zu berücksichtigen. Das eine muss – und sollte – das andere jedoch nicht ausschließen.
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