Wie entwickelt sich eine BED?
Aktuell wird davon ausgegangen, dass sich die BED basierend auf einem multifaktoriellen Störungsmodell entwickelt, d.h., es sind mehrere Faktoren, nämlich genetische, psychologische und soziale, an der Entstehung der BED beteiligt. Zum Teil werden diese Bedingungsfaktoren auch für die ↑ Ätiologie der Bulimia und Anorexia Nervosa diskutiert.
Die pathogenetische (krankheitsbedingte) Interaktion biologischer, psychologischer und sozialer Risikofaktoren für die Ätiologie der BED ist belegt, wobei aber das spezifische Zusammenwirken dieser Faktoren bislang noch weitgehend ungeklärt ist. Hingegen existieren nach heutigem Forschungsstand Befunde für die folgenden Faktoren:
Bei der Entwicklung einer BED interagieren zwei ätiologische Faktorengruppen: Einerseits sind allgemeine ↑ Vulnerabilitätsfaktoren zur Entwicklung einer psychischen Störung (nicht spezifisch für die BED) (mit)verantwortlich. Dazu gehören beispielsweise das Vorkommen psychischer Erkrankungen in der Familie, belastende Lebensereignisse (z. B. Missbrauch). Andererseits sind Faktoren beteiligt, die zur Entwicklung von Übergewicht und Adipositas in der Kindheit beitragen. Dabei scheint das Zusammentreffen von kindlichem Übergewicht und familiären Hänseleien sowie abwertenden Bemerkungen über Figur, Gewicht, Aussehen und Essverhalten spezifisch für die Entstehung einer BED zu sein, denn hinsichtlich des Zusammentreffens dieser beiden Faktoren unterscheiden sich die BED-Patienten sowohl von normalgewichtigen als auch von adipösen Vergleichsgruppen (u.a. Fairburn et al. 1998; Jackson et al. 2000).
Bisherige Studien geben darüber hinaus Hinweise auf eine genetische Basis von Essanfällen, wobei die Ergebnisse für eine familiäre Aggregation (Anhäufung) der BED uneinheitlich sind (Fowler / Bulik 1997; Lee et al. 1999). Eine moderate ↑ Heritabilität für Essanfälle (49 %) sowie eine substantielle Erblichkeit für Adipositas (86 %) resultiert aus einer Zwillingsstudie von Bulik et al. (2003). Des Weiteren konnte bisher eine molekulargenetische Untersuchung zeigen, dass Mutationen im Melanocortin-4-Rezeptor-Gen Essanfälle bedingen können (Branson et al. 2003). Die aktuelle Forschungslage zur Heritabilität der BED ermöglicht also Annahmen, die jedoch unter vergleichbaren Bedingungen weiter überprüft werden müssen.
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Auch psychobiologische Faktoren, die einen Einfluss auf die Nahrungszufuhr haben, werden für die Entwicklung der BED in Erwägung gezogen. Dabei werden insbesondere der Neurotransmitter ↑ Serotonin, das Hormon Leptin sowie Neuropeptide (Verbindung von Aminosäuren), u.a. Ghrelin, Cholecystokinin, im Zusammenhang mit der Entstehung von Essstörungen diskutiert (z.B. Geliebter et al., 2004).
Studien, die auf einer ↑ retrospektiven Erfassung möglicher Risikofaktoren basieren, weisen auf folgende Vorläufer der Erstmanifestation von Essanfällen im Rahmen einer BED-Erkrankung hin: eine erhöhte kindliche Vulnerabilität (beispielsweise Schüchternheit, Verhaltensauffälligkeiten, affektive Störung), ein erhöhtes Risiko für physischen und sexuellen Missbrauch sowie Kritik hinsichtlich Figur und Gewicht. Letztgenannter Faktor ist der bisher einzige störungsspezifische für die Entwicklung einer BED (Fairburn et al. 1998; Jackson et al. 2000).
Weitere Hinweise zur Ätiologie der BED geben retrospektive Studien zum Störungsbeginn, wobei sich zwei verschiedene Subtypen unterscheiden lassen, der dietfirst bzw. bingefirst Subtyp: für diejenigen BED-Patienten, die vor der Entwicklung von Essanfällen Diätversuche durchgeführt haben (dietfirst Subtyp) wird das ↑ restriktive Essverhalten als ätiologischer Faktor diskutiert (u. a. Grilo / Masheb 2000). Im Gegensatz dazu existiert unter den BED-Betroffenen auch ein bingefirst Subtyp, d.h., vor den Essanfällen haben diese Patienten keine Diäten durchgeführt. Für diesen ätiologischen Subtyp wird angenommen, dass sich die essstörungsspezifische Psychopathologie eher im Zusammenhang mit psychischen Beeinträchtigungen entwickelt (Spurrell et al. 1997).
Kernaussage
Das für die Bulimia Nervosa gültige Modell, dass sich die Essstörungspsychopathologie vor dem Hintergrund restriktiven Essverhaltens etabliert, scheint zumindest für die eine Subgruppe der BED-Patienten nicht zuzutreffen, d.h., bei der BED kann spekuliert werden, dass es verschiedene ätiologische Wege zur Manifestation der Störung gibt.
Bisherige Ergebnisse aus ↑ prospektiven Risikostudien beziehen sich auf bulimische Merkmale und weisen auf eine besondere Gefährdung für die Entwicklung von Essanfällen bei gleichzeitigem Überbewerten der eigenen Figur, erhöhtem ↑ BMI und Diätieren hin. Ebenfalls prädiktiven Wert für kindliches Sich-Überessen haben elterliche Einflüsse wie beispielsweise restriktives Essverhalten der Mutter und elterliches |62◄ ►63|
Übergewicht (Stice et al. 1999). Als unmittelbare Auslöser von Essanfällen werden interpersonelle Stressoren (z.B. Streit / Konflikte mit anderen, Zurückweisung), ↑ Konditionierung sowie ein spezifischer Ernährungsstil diskutiert.
• Speziell interpersonelle Stressoren und der damit assoziierte negative ↑ Affekt bedingen bei BED-Betroffenen erhöhtes Verlangen nach Essen und führen somit häufig zu Essanfällen – die Essanfälle bedingen eine Spannungsreduktion und somit eine kurzfristige Verbesserung des Affekts (z. B. Hagan et al. 2002).
• Des Weiteren können Essanfälle auch durch Konditionierungsmechanismen ausgelöst werden, d.h., spezifische Stimuli wie beispielsweise Geruch, Anblick und Geschmack von Nahrungsmitteln werden durch ↑ Konditionierung systematisch mit dem Erleben von Essanfällen assoziiert (Jansen, 1998).
• Zudem wird unkontrolliertes Essverhalten durch fettreiche und kohlenhydratarme Ernährung, die einen geringen Sättigungswert aufweist, begünstigt (z. B. Drewnowski et al. 1992).
Abbildung 3: Integratives Erklärungsmodell der BED (aus: Munsch / Biedert, in Druck)
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Kernaussage
Die BED basiert auf einem komplexen Zusammenwirken verschiedener Ätiologiefaktoren, die sich aus biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren zusammensetzen und sowohl für die Entstehung als auch die Aufrechterhaltung der Essstörung verantwortlich sind (siehe Abbildung 3). Bisherige Untersuchungen zur Ätiologie wurden vor allem mit kaukasischen Frauen durchgeführt, sodass keine generalisierenden Annahmen für Männer bzw. für andere Ethnien möglich sind.